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IT UND AUTISMUS - "Ich suche nicht nach Fehlern, ich finde sie"

IT UND AUTISMUS - "Ich suche nicht nach Fehlern, ich finde sie" - Golem Karrierewelt

(Bild: Public Domain)

Von Julia Ley, veröffentlicht am

 

In Deutschland sind bis zu 90 Prozent der Autisten arbeitslos. Dabei haben viele von ihnen Talente, die gerade im IT-Bereich gefragt sind. Die Firma Auticon nutzt dieses Potenzial.

"Ein Telefon", sagt Martin Boehm (Name von der Red. geändert), "hat am Arbeitsplatz eines IT-Beraters wirklich nichts verloren." Kunden und Kollegen könnten einen Arbeitsprozess dann jederzeit unterbrechen und verlangen, dass man sofort dies oder jenes tue. Die Konzentration ist dahin, hinterher kommt man nicht zu der Aufgabe zurück, mit der man eigentlich beschäftigt war. Sein Kollege Sören Schindler stimmt nickend zu. Es gebe Studien, die zeigten, dass "auch der Durchschnittsmensch" produktiver sei, wenn er sich nur auf eine Sache konzentriere.

Boehm und Schindler sind keine Durchschnittsmenschen, sie gehören zu dem etwa einen Prozent der Menschen in Deutschland, bei denen Asperger diagnostiziert wurde, eine leichte Form von Autismus. Das Telefon steht für die Dinge, mit denen sich viele Menschen mit Asperger schwertun: subtile Kommunikation, Flexibilität, Spontanität. Eigenschaften, die heute in fast jedem Job vorausgesetzt werden - und die für viele Autisten große Hürden bedeuten. Es gibt nicht viele Unternehmen, die bereit sind, sich auf Mitarbeiter einzustellen, die diese Eigenschaften nicht mitbringen. Wohl auch deshalb sind in Deutschland noch immer 75 bis 90 Prozent der Autisten arbeitslos - obwohl viele normalbegabt, manche sogar hochbegabt sind.

Schindler und Boehm hatten Glück: Ihr jetziger Arbeitgeber hat Verständnis, wenn sie nicht telefonieren wollen. Sie arbeiten bei Auticon - der Website zufolge das "erste und einzige Unternehmen in Deutschland, das ausschließlich Menschen im Autismus-Spektrum als IT-Consultants beschäftigt".

Viele Autisten haben Talente, die in der IT gefragt sind

Die Idee zu der Firma kam Gründer Dirk Müller-Remus, selbst Vater eines autistischen Jungen, in einer Selbsthilfegruppe. Er war geschockt, wie viele junge Autisten trotz offensichtlicher Talente arbeitslos sind. Also gründete er Auticon: Die Firma fungiert als Vermittler, sie schickt ihre Mitarbeiter in große Unternehmen.

Dort arbeiten sie im Team mit Nicht-Autisten: gelebte Inklusion, jeder bringt seine Stärken ein. Denn was Autisten im Kommunikativen fehlt, gleichen sie oft durch andere Talente aus, die in der IT-Welt sehr gefragt sind: Detailgenauigkeit, eine Vorliebe für klare Muster und Strukturen, die Fähigkeit, auch monotone Tätigkeiten stundenlang ausführen zu können, ohne das Interesse und die Konzentration zu verlieren.

Fachlich anerkannt, sozial schwierig

Martin Boehm macht genau das. Er hilft, Websites weiterzuentwickeln, und prüft sie auf Fehler. Boehm sitzt an einem großen Konferenztisch im Münchner Büro der Firma, neben ihm sein Kollege Sören Schindler. Statt stressiger Großraumbüros gibt es hier helle Möbel, große Fenster, Topfpflanzen und viel Platz - doch beide sind nur für das Gespräch in die Filiale gekommen, normalerweise arbeiten sie beim Kunden.

Als Boehm in den 90ern eher durch Zufall in den IT-Sektor rutschte - "damals konnte jeder in der Branche arbeiten, der eine Maus bedienen konnte" -, ging das lange gut. Er machte eine Ausbildung zum IT-Assistenten in der Softwaretechnologie und arbeitete sich hoch. Fachlich sei er stets anerkannt gewesen, sagt Boehm. "Aber das ganze soziale Drumherum, die Hierarchien, die Machtspielchen habe ich nicht verstanden."

Mediziner beschreiben Asperger als eine Störung der sozialen Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung. Wer Asperger hat, der kommuniziert vor allem informationsbezogen: Es geht darum, was gesagt wird, nicht wie. Anspielungen, Subtext und Ironie verstehen viele Asperger-Betroffene nicht. Es fällt ihnen schwer, komplexe Emotionen zu deuten, die über Wut oder Freude hinausgehen. Deshalb reagieren die Betroffenen in manchen Situationen unangemessen. Ihr Verhalten kann unhöflich oder gar gefühlskalt wirken, doch gerade das sind Asperger-Betroffene keineswegs: Sie fühlen genauso viel oder wenig wie andere Menschen, es fällt ihnen nur schwerer, das, was sie fühlen, verständlich zu machen.

Bei Boehm kam der Bruch im Jahr 2005. Er arbeitete damals bei einem Finanzdienstleister in München. Doch das Großraumbüro überforderte ihn, die quer durch den Raum gerufenen Kommentare, die Kollegin, die jeden ihrer Arbeitsschritte kommentierte. Boehms Gehirn kann das alles nicht filtern, es prasselt alles gleichzeitig auf ihn ein. Irgendwann machte er dann einen Fehler, ein wichtiges Dokument mit Zahlungsvorgängen musste verschickt werden - und auf einmal standen 20 Millionen Euro zu viel drin. "Mir ist klar, dass das nicht hätte passieren dürfen", sagt er heute. Aber niemand hatte es gegenlesen, niemand außer ihm übernahm Verantwortung - obwohl gerade er oft vor der mangelnden Qualitätssicherung gewarnt hatte.

IQ von 135 - und trotzdem Frührentner

Auch Schindlers Berufsgeschichte weist Brüche auf. Er ist Experte für Big Data und Softwareentwicklung, der Stern nannte ihn kürzlich "einen der besten seines Fachs". Doch genau wie Boehm scheiterte er am Multitasking und am Großraumbüro. Er brach zusammen. Ein Psychiater diagnostizierte schwere Depressionen und eine soziale Phobie, riet ihm, mehr Zeit mit Menschen zu verbringen. Die ständige Reizüberflutung habe ihn richtig "ausgemergelt", sagt Schindler.

Als er ein halbes Jahr später eine Rehabilitation beantragen wollte, sagte man ihm, erfahrungsgemäß könnten Menschen wie er nie wieder arbeiten. "Man hatte mich abgeschrieben", sagt Schindler, der Mann mit dem IQ von 135. Zwei Jahre später wurde er Frührentner, mit 30.

Auch für Boehm war sein Rauswurf der Beginn einer langen Krise. Der Fehler, so glaubt er, sei letztlich ein Vorwand gewesen, um ihn loszuwerden. Jahrelang kam er nirgendwo mehr unter, wurde immer einsamer, schließlich depressiv. Irgendwann landete er in der Psychiatrie, "ich hab alle Stationen durch". Die Ärzte diagnostizierten alles Mögliche: soziale Phobien, Depressionen, Verfolgungswahn. Die Wende kam erst 2010, als eine Assistenzärztin in der Klinik sich traute, ihren Vorgesetzten zu widersprechen. Sie diagnostizierte Asperger. Boehm war da schon 50.

Eine Caritas-Mitarbeiterin brachte ihn auf Auticon

Ab diesem Zeitpunkt ging es bergauf, Boehm bekam zum ersten Mal richtige Hilfe. Die Caritas stellte Boehm eine Integrationshelferin, die ihm bei der Jobsuche half, aber auch bei Alltäglichem, einfach mal irgendwo anrief. Sie brachte ihn 2013 auch auf Auticon. Vier Wochen arbeitete er Probe, dann hatte er den Job.

Sein erstes Projekt führte Boehm zu einer bayerischen Bank. Das Unternehmen wollte eine Datenbank von einem System zum nächsten transferieren, nur Boehm fiel auf, dass die neue Anwendung eine ganze Reihe von Zahlen falsch übernahm. Der Fehler war kaum sichtbar, aber er hätte das Unternehmen viel Geld kosten können. Wenn man Boehm fragt, wie er diese Dinge erkennt, guckt er, als verstünde er die Frage nicht. "Ich suche nicht nach Fehlern", sagt er schließlich, "ich finde sie." Viele Autisten berichten das: Fehler springen sie einfach an.

Auch für Schindler brachte die richtige Diagnose die Wende. Die Krankheit zu kennen, hieß, sie zu verstehen. Langsam ging es bergauf. Im Juli 2014 fing er bei Auticon an, heute programmiert er für die Hypovereinsbank Software, mit der die Bank ihre Risiken kalkulieren kann. Schindler hat gelernt, sein Leben in Balance zu halten: nicht zu viel Veränderung, viele Pausen machen, nicht zu viele Menschen auf einmal. Solange er sich daran hält, kann er gut leben. 

Lange galt Autismus ausschließlich als Krankheit, die behandelt werden muss. Boehm hat dafür wenig Verständnis. "Asperger ist eine neurologische Variante", sagt er. "Nur: Es macht etwas mit dem Betroffenen, es macht anders, und dieses Anders-sein, das behindert." Das Bild wandelt sich, aber nur langsam. Viele Unternehmen tun sich bis heute schwer, sich auf Menschen mit Asperger einzustellen. 

Auticon versucht, den Wandel mit kleinen Schritten zu erreichen: indem man die Stärken in den Vordergrund stellt und den Unternehmen erklärt, dass sich der Mehraufwand lohnt. Dass die Berater vielleicht ein Einzelbüro brauchen, klare Absprachen und nicht gut mit ständigen Veränderungen umgehen können - dafür aber ihre Aufgaben mit einer Gründlichkeit erledigen, die Nicht-Autisten abgeht.

Keine Hilfsorganisation

Als Auticon 2011 öffnete, hatte die Firma eine einzige Niederlassung in Berlin. Heute gibt es Zweigstellen in München, Düsseldorf, Frankfurt, Stuttgart und Hamburg. 77 Mitarbeiter arbeiten dort für Auticon, 51 davon sind Autisten. Mittlerweile finanziert sich das Unternehmen zu 90 Prozent selbst, nur zehn Prozent der Einnahmen kommen noch aus öffentlichen Fördertöpfen. Zu den Kunden gehören große Unternehmen wie die Telekom, Siemens, die Hypovereinsbank und die BayernLB.

Die Firma versteht sich nicht als Hilfsorganisation. Sie ist nicht gemeinnützig, sondern will Gewinn erwirtschaften, um damit weitere Projekte zu finanzieren. Das Konzept geht auf. Dieses Jahr wird Auticon voraussichtlich zum ersten Mal schwarze Zahlen schreiben, nächstes Jahr sollen Büros in London und Paris eröffnet werden. "Wir sind davon überzeugt, dass unsere Mitarbeiter mindestens ebenso gute Arbeit leisten wie Nicht-Autisten - in manchen Bereichen sogar bessere", heißt es auf der Webseite. Warum also sollten sie nicht genauso bezahlt werden, fragt Mitarbeiter Jürgen Ferner.

Ferner arbeitet als Job-Coach bei der Niederlassung in München. Job-Coaches betreuen das Auswahlverfahren und sind eine Art Brücke zwischen Beratern und Kunden. Sie erklären den Unternehmen, worauf sie vorbereitet sein müssen, und vermitteln, wenn es Probleme gibt. Ferner hat das nicht gelernt, er hat früher im Vertrieb gearbeitet und kam eher zufällig zu Auticon. Ein Nachteil war das nicht. Wichtiger als die Ausbildung ist dem Unternehmen die Persönlichkeit der Job-Coaches. Sie müssten eine ruhige Ausstrahlung mitbringen und "klar, einfach und logisch kommunizieren können", heißt es auf der Webseite.

Davon, dass das Konzept des Unternehmens funktioniert, ist er nach vier Jahren trotzdem überzeugt. Auch wenn es nicht immer leicht ist, "den sozialen und wirtschaftlichen Aspekt zusammenzubringen". Viele der Bewerber kommen mit der richtigen Unterstützung im Alltag gut zurecht, aber nicht alle. Nach der Probephase wird etwa einer von zehn eingestellt. Bei Auticon vertraut man deshalb auf die Philosophie der kleinen Schritte: "Wir werden nicht allen Menschen im Autismus-Spektrum Arbeit geben können", sagt Unternehmenssprecher Tilman Höffken. "Aber wir denken, es ist besser, das Problem in kleinen Schritten anzugehen, als nur darüber zu reden."

Martin Boehm ist einer von denen, die die Probezeit überstanden haben. Auticon mache viel richtig, sagt er, doch manchmal fühlt er sich auch hier noch unverstanden. Während eines Projekts musste er einmal eine Stunde lang mit einem Kunden telefonieren, der schlecht vorbereitet war und widersprüchlich argumentierte. Wäre es sein erstes Auticon-Projekt gewesen, er hätte auf der Stelle gekündigt.

Mit Menschen zu telefonieren, die er nicht kennt, ist für ihn fast unmöglich. Heute ist er froh, dass er geblieben ist - auch wenn es ihn wurmt, dass es ein Unternehmen wie dieses überhaupt geben muss: "Ich möchte bei Auticon arbeiten, weil es das bessere Angebot ist, was die Arbeitsplatzgestaltung und Unterstützung angeht", sagt er. "Nicht, weil ich auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance habe."

Kommunikation wie ein Puzzle zusammensetzen

Es ist eine Kritik, die an all die anderen Unternehmen geht, die bis heute nicht erkannt haben, dass Vielfalt auch eine Chance ist. Autismus ist ein Lernprozess, von dem beide Seiten im besten Fall viel lernen können. Wenn es Autisten wie Nicht-Autisten gelingt, sich aufeinander einzulassen, dann hat das für die Unternehmen oft echte Vorteile: Andere Sichtweisen, andere Ansätze führen oft zu neuen, kreativen Lösungen. Im Silicon Valley suchen manche Firmen deswegen sogar gezielt nach autistischen Mitarbeitern. Hierzulande hat SAP die Chance erkannt und verkündet, bis 2020 ein Prozent seiner Mitarbeiterschaft aus Autisten rekrutieren zu wollen.

Damit solch eine Zusammenarbeit klappt, braucht es Nachsicht, Selbstreflexion und viel guten Willen - auf beiden Seiten. "Auch ich kann wahrscheinlich nervig sein", sagt Boehm, "wenn ich stundenlang von Dingen rede, die nur mich interessieren."

Bei Auticon zumindest scheint es zu klappen, das Voneinander-Lernen. Boehm geht raus in den Innenhof, das Gespräch hat ihn ermüdet. Er raucht seine selbst gedrehte Zigarette schweigend. Als er fertig ist, zieht er einen kleinen Behälter aus der Tasche, um den Stummel nicht auf den Boden werfen zu müssen. "Ganz schön frisch hier", sagt in diesem Moment jemand in der Runde und macht einen Schritt in Richtung Tür. Boehm stutzt kurz, dann schließt er den Deckel seines improvisierten Aschenbechers und sagt: "Ich glaube, das sollte bedeuten 'wollen wir wieder reingehen', stimmt's?" Er lacht.

Ferner kann das, doch einfach ist sein Job trotzdem nicht. Oft gelingt es ihm zu vermitteln, wenn einer der Berater nicht im Großraumbüro arbeiten kann oder stets am gleichen Platz sitzen will. Er erklärt den Kunden dann, warum grelles Licht, Lärm und jede Art von Veränderung Stress für Autisten bedeuten. Meist gelinge das ganz gut, sagt Ferner: "Viele Kunden sagen sogar, dass sich durch die Auticon-Mitarbeiter die Kommunikation im Team verbessert. Alle drücken sich klarer aus."

Aber es gibt auch die anderen Fälle, Situationen, in denen seine Vermittlungsversuche scheitern. Als sich ein Kunde beschwerte, ein Berater käme stets in den gleichen Klamotten zur Arbeit, musste er die Botschaft übermitteln. Ferner traf nicht den richtigen Ton, der Berater war verletzt und tauchte beim Kunden nicht mehr auf. Auch das habe er gelernt, sagt Ferner heute: "Die Wortwahl ist extrem wichtig."

 

 

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