Wenn nett gewinnt: Einstellungsentscheidungen basieren auf Sympathie statt Kompetenz

An illustration of a man receiving praise.

Einstellen nach Bauchgefühl? Eine Studie zeigt: Wer im Interview gut rüberkommt, kriegt den Job – und Kompetenz wird zur Nebensache.

Im Jahr 2025 bleiben Bewerbungsgespräche weiterhin eine entscheidende Hürde in der Karriere vieler Menschen – doch die Entscheidungsprozesse dahinter sind oft weniger strukturiert als angenommen. Eine aktuelle Studie von Textio wirft einen kritischen Blick auf die Feedbackkultur in Bewerbungsprozessen und kommt zu einem ernüchternden Schluss: Wir stellen Menschen vor allem ein, weil wir sie mögen – nicht unbedingt, weil sie am besten für die Position qualifiziert sind.

Die Sympathiefalle im Recruiting

Die Daten sprechen eine klare Sprache: Kandidaten, die schließlich ein Jobangebot erhalten, werden in den internen Bewertungen der Unternehmen überdurchschnittlich häufig mit persönlichkeitsbezogenen Attributen beschrieben. Die Wahrscheinlichkeit, als Person mit einer "tollen Persönlichkeit" charakterisiert zu werden, ist bei erfolgreichen Bewerbern 12-mal höher als bei abgelehnten. "Freundlichkeit" wird 5-mal häufiger erwähnt und "großartige Energie" 4-mal häufiger.


Diese subjektiven Eindrücke sind jedoch kaum messbare Leistungsindikatoren. Dennoch beeinflussen sie maßgeblich Einstellungsentscheidungen – selbst wenn Interviewer glauben, objektiv zu bewerten. Eine schwerwiegende Folge: Die Qualität der Einstellungen leidet, während die Kosten für die Unternehmen steigen.


Interessanterweise dokumentieren Interviewer 39 Prozent mehr Feedback, wenn sie einen Kandidaten ablehnen. Sie bemühen sich stärker, eine Ablehnung zu rechtfertigen, als eine Einstellung zu erklären. Oft haben Entscheider ein unbestimmtes Bauchgefühl und versuchen im Nachhinein, dieses mit rationalen Argumenten zu unterfüttern.

Geschlechtsspezifische Stereotype im Feedback

Besonders problematisch: Die Persönlichkeitsbeschreibungen in Bewerberbeurteilungen folgen klaren Geschlechterstereotypen. Männer werden 7-mal häufiger als "selbstbewusst" und 7,5-mal häufiger als "besonnen" beschrieben. Frauen hingegen charakterisiert man 11-mal häufiger als "angenehm" und sogar 25-mal häufiger als "lebhaft" (engl. bubbly).


Diese unterschiedlichen Zuschreibungen existieren selbst dann, wenn beide Geschlechter ein Stellenangebot erhalten – es handelt sich also nicht um Kritik, sondern um gefestigte Wahrnehmungsmuster, die das Recruitingverfahren prägen.


Noch gravierender: Interviewer schreiben durchschnittlich 17 Prozent mehr Feedback über Frauen als über Männer. Gleichzeitig bleiben Frauen häufiger ganz ohne dokumentiertes Feedback. Diese widersprüchlichen Muster deuten auf einen komplexen Bias im Bewertungsprozess hin.

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Die Feedbacklücke nach dem Interview

Wenn es um die Rückmeldung an die Kandidaten selbst geht, zeigt sich ein ernüchterndes Bild: 84 Prozent der abgelehnten Bewerber erhalten keinerlei Feedback zu ihrer Vorstellung im Gespräch. Aber selbst bei erfolgreichen Kandidaten ist die Situation kaum besser – nur 23 Prozent berichten, dass sie "manchmal" oder "oft" eine substanzielle Rückmeldung erhalten.


Die Ungleichheit setzt sich hier fort: Unter den erfolgreichen Kandidaten geben 25 Prozent der Männer an, Feedback zu erhalten, während der Anteil bei Frauen und nichtbinären Personen nur bei 16 Prozent liegt. Weiße Bewerber mit Jobangebot bekommen zwei- bis dreimal häufiger eine Rückmeldung als schwarze oder lateinamerikanische Kandidaten.


Dabei würde gerade konstruktives Feedback die Leistung in zukünftigen Interviews verbessern. Studien zeigen, dass Kandidaten, die Rückmeldungen erhalten haben, weniger ängstlich und selbstbewusster in nachfolgende Gespräche gehen. Sie können ihr Auftreten gezielt optimieren und schneiden dadurch besser ab.

Top-Talente, vage Feedbacks

Paradoxerweise erhalten die stärksten Kandidaten, wie auch Hochleister im Job, oft die oberflächlichsten Bewertungen. Statt konkreter Kompetenzeinschätzungen finden sich in ihren Beurteilungen Floskeln wie "rockstar", "good fit" oder "great energy". Diese vagen Zuschreibungen mögen positiv klingen, bieten aber keinerlei Ansatzpunkte für persönliches Wachstum.


Die Folge ist absehbar: Ohne klare Entwicklungsperspektiven stoßen selbst Top-Talente irgendwann an eine Decke. Sie fühlen sich unterfordert und wechseln häufiger das Unternehmen – ein Muster, das sich sowohl in der Personalentwicklung als auch im Recruiting zeigt.

Warum geben Unternehmen so wenig Feedback?

Die Gründe für die Zurückhaltung sind vielfältig. Viele Unternehmen fürchten rechtliche Konsequenzen, sollte das Feedback als diskriminierend interpretiert werden. Zudem fehlt es häufig an Zeit und Trainings für Interviewer, um konstruktive Rückmeldungen zu formulieren.


Nicht zu unterschätzen ist auch der emotionale Aspekt: Vielen fällt es schwer, einer Person direkt mitzuteilen, warum sie nicht ausgewählt wurde. Der vermeintlich einfachere Weg – eine standardisierte Absage ohne konkretes Feedback – verfestigt jedoch ungewollt die bestehenden Ungleichheiten im Bewerbungsprozess.

Der Ausweg: strukturierte Interviews und dokumentiertes Feedback

Die Forschung zeigt einen klaren Ausweg aus diesem Dilemma: Unternehmen, die Kandidaten anhand strukturierter, kompetenzbasierter Einschätzungen bewerten und diese sorgfältig dokumentieren, treffen nachweislich bessere Personalentscheidungen.


Eine weitere Studie mit dem chinesischen Technologiekonzern Tencent analysierte die schriftlichen Bewertungen von 7.650 Kandidaten, die eingestellt wurden. Das Ergebnis: Je mehr jobspezifische Fähigkeiten in der Bewertung dokumentiert wurden, desto besser war die spätere Arbeitsleistung der Eingestellten. Diese Mitarbeiter blieben zudem dem Unternehmen länger erhalten.


Trotz dieser eindeutigen Erkenntnisse basiert die Mehrheit der Einstellungsentscheidungen nach wie vor auf Bauchgefühl oder unzureichend dokumentierten Gesprächen. Ein klassischer Fall, in dem etablierte Praxis und wissenschaftliche Evidenz auseinanderklaffen.

Die verborgene Stärke der Kandidaten

Interessanterweise zeigt die Textio-Studie auch, dass die meisten Bewerber (81 Prozent) gut einschätzen können, ob sie ein Jobangebot erhalten werden – selbst ohne explizites Feedback. Diese Fähigkeit ist bei Männern und älteren Kandidaten (über 40 Jahre) besonders ausgeprägt.


Noch bemerkenswerter: Menschen, die in der Vergangenheit bereits Interview-Feedback erhalten haben, können den Ausgang künftiger Bewerbungsgespräche deutlich besser vorhersagen. Unter den Kandidaten, die "manchmal" oder "oft" Rückmeldungen bekommen haben, sind 61 Prozent in der Lage, den Erfolg eines Bewerbungsgesprächs "meistens" oder "immer" korrekt zu prognostizieren.


Dies unterstreicht, wie wertvoll Feedback für die persönliche Entwicklung ist. Es gibt Bewerbern konkrete Daten darüber, wie ihre Fähigkeiten und ihr Auftreten wahrgenommen werden – Erkenntnisse, die sie ohne fremde Rückmeldung nur schwer gewinnen können.

Ein faires Recruiting-System braucht Transparenz

Die Erkenntnisse der Textio-Studie sind eine dringende Mahnung an Personalverantwortliche. Wenn wir tatsächlich die besten Talente finden und halten wollen, müssen wir unsere Bewertungsprozesse überdenken. Transparente, strukturierte Interviews mit klaren Kompetenzkriterien sind der Schlüssel – sowohl für die Qualität der Einstellungen als auch für die Fairness gegenüber den Bewerbern.


Dokumentierte Feedback-Prozesse helfen nicht nur, rechtliche Risiken zu minimieren, sondern verbessern nachweislich die Treffsicherheit bei Personalentscheidungen. Gleichzeitig ermöglichen sie allen Kandidaten – unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Alter – faire Entwicklungschancen.


Für die Studie wertete Textio mehr als 10.000 dokumentierte Bewertungen aus Vorstellungsgesprächen von fast 4.000 Kandidaten aus. Ergänzend wurden 1.100 Berufstätige zu ihren Erfahrungen in Bewerbungsprozessen der letzten drei Jahre befragt. Die Ergebnisse zeigen branchenübergreifende Muster, die sowohl die internen Bewertungsprozesse als auch die Kommunikation mit Bewerbern betreffen.


Bild: Freepik.com

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