Warum Europa jetzt Microsoft den Rücken kehrt und die Kontrolle über seine Daten zurückfordert

Europa ist stark abhängig von US-Technologieanbietern. Geopolitische Spannungen und Kritik an Datenschutzverstößen drängen die EU nun dazu, verstärkt auf eigene IT-Lösungen und digitale Souveränität zu setzen.
Europas Abhängigkeit von US-Technologieanbietern wie Microsoft birgt erhebliche Risiken für Datenschutz, Sicherheit und wirtschaftliche Unabhängigkeit.
Die US-Gesetze wie der Cloud Act gefährden die Einhaltung der EU-Datenschutzstandards und erschweren eine sichere Nutzung ausländischer Cloud-Dienste.
Geopolitische Spannungen und Datenschutzverstöße führen zu Forderungen nach eigener Kontrolle über Daten und IT-Infrastruktur.
Schleswig-Holstein ist das erste europäische Bundesland, das Microsoft komplett durch Open-Source-Alternativen ersetzt und eigene digitale Infrastruktur aufbaut.
Weitere europäische Regionen und Institutionen streben ähnliche Unabhängigkeit an, etwa Dänemark, Frankreich und die EU-Kommission.
Als dem Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC), Karim Khan, sein Microsoft-basiertes E-Mail-Konto aufgrund von US-Sanktionen abrupt gesperrt wurde, zeigte sich Europas Abhängigkeit von externen Technologieanbietern in aller Deutlichkeit. Der Vorfall machte klar, dass zentrale digitale Kommunikationswege im geopolitischen Konfliktfall kontrolliert oder blockiert werden können – mit weitreichenden Folgen.
Kurz darauf erklärte Schleswig-Holsteins Digitalisierungsminister Dirk Schroedter: „Wir sind fertig mit Teams!“. Diese Aussage spiegelt die wachsende Einsicht wider, dass Europa seine digitale Souveränität – also die Fähigkeit, Daten, Infrastruktur und Software unabhängig zu steuern – nicht länger gefährden darf. Dabei stehen nicht allein Datenschutzaspekte im Fokus, sondern auch Fragen der nationalen Sicherheit, wirtschaftlichen Unabhängigkeit und demokratischen Kontrolle.
Ursachen für das Umdenken in Europa
Die Bemühungen, die Abhängigkeit von außereuropäischen IT-Anbietern zu verringern, gründen auf mehreren Entwicklungen. Die Sperrung des E-Mail-Kontos des ICC-Anklägers offenbarte, wie leicht die Kontrolle über kritische digitale Dienste verloren gehen kann, wenn diese in den Händen geopolitisch getriebener Unternehmen liegen. Der Krieg in der Ukraine hat zudem Europas Verwundbarkeit bei essenziellen Ressourcen wie Energie sichtbar gemacht, was die Aufmerksamkeit auf weitere Abhängigkeiten, insbesondere digitale, lenkt. Hinzu kommen Datenschutzfragen: 2024 stellte der Europäische Datenschutzbeauftragte fest, dass die EU-Kommission durch den Einsatz von Microsoft 365 gegen wesentliche Vorgaben der Datenschutz-Grundverordnung verstößt.
Diese Erkenntnisse führten zu Forderungen, Datentransfers in die USA zu unterbinden und europäische Alternativen zu forcieren. Wirtschaftlich gesehen dominiert Microsoft weiterhin den Markt für Betriebssysteme und Office-Software in Europa, mit einem Marktanteil von knapp 70 Prozent in Deutschland im Februar 2025. Die EU-Kommission räumt intern eine starke Abhängigkeit von Microsoft ein, da es kaum glaubwürdige europäische Alternativen gibt. Gleichzeitig setzen viele öffentliche Einrichtungen durch hohe Lizenzgebühren und unerwartete Update-Kosten Ressourcen unter Druck, was die Suche nach Alternativen zusätzlich motiviert. Technologisch bleiben EU-Staaten zudem bei Clouddiensten, KI und Hardwarekomponenten stark von außereuropäischen Anbietern abhängig, was die digitale Souveränität zusätzlich belastet.
Sicherheitsaspekte: US-Gesetze als Herausforderung
Ein bedeutendes Hindernis für die digitale Souveränität Europas sind US-Gesetze wie der Cloud Act. Dieser verpflichtet US-Unternehmen, auch Daten ausländischer Kunden – selbst wenn sie in europäischen Rechenzentren gespeichert sind – auf Anforderung an US-Behörden herauszugeben. Dies widerspricht der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und untergräbt die Hoheit über eigene Daten. Selbst Verschlüsselungen bieten keinen vollständigen Schutz, wenn US-Anbieter die Schlüssel kontrollieren und zur Herausgabe gezwungen werden können.
Darüber hinaus kann die US-Regierung Anbieter verpflichten, Schutzmechanismen außer Kraft zu setzen, wodurch die Integrität und Vertraulichkeit europäischer Daten gefährdet wird. Diese gesetzlichen Rahmenbedingungen machen es schwer, europäische Daten in ausländischer Cloudinfrastruktur sicher und DSGVO-konform zu speichern und zu verarbeiten. Dies ist ein wesentlicher Grund für die EU, eigene Cloudinfrastrukturen wie Gaia-X zu fördern, die europäischen Sicherheits- und Datenschutzstandards entsprechen.
Schleswig-Holstein als Vorreiter
Als ein frühes Beispiel digitaler Liberalisierung gilt die Stadt München: Mit dem Projekt Limux setzte sie lange Zeit auf Open-Source-Lösungen und reduzierte so die Abhängigkeit von Microsoft. Nach politischen Wechseln kehrte München 2017 jedoch teilweise wieder zu Microsoft zurück, wobei es aktuell erneute Bemühungen gibt, Open Source wieder stärker zu integrieren.
Schleswig-Holstein ist jedoch das erste europäische Bundesland, das Microsoft vollständig den Rücken kehrt. Innerhalb von drei Monaten sollen fast alle Zivilbeamten, Polizisten und Richter keine Microsoft-Programme mehr am Arbeitsplatz verwenden.
Die technische Umstellung erfolgt schrittweise: Libreoffice ersetzt Word und Excel, Open-Xchange tritt an die Stelle von Outlook für E-Mails und Kalender. Langfristig ist zudem der Umstieg auf das Linux-Betriebssystem geplant. Von der Umstellung sind 30.000 der 60.000 Beamten des Bundeslandes betroffen, weitere 30.000 Lehrer sollen in den kommenden Jahren folgen.
Das Bundesland möchte die Kontrolle über die Datenspeicherung zurückgewinnen und seine digitale Souveränität sichern. Dazu plant es, sich auf öffentlich kontrollierte digitale Infrastruktur aus Deutschland zu verlassen statt auf die eines amerikanischen Unternehmens. Nicht zuletzt erhofft man sich durch diesen Schritt Einsparungen in Höhe von mehreren Millionen Euro.
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Weitere europäische Initiativen
Dänemark zeigt ähnliche Tendenzen: Das dänische Ministerium für digitale Angelegenheiten vollzieht einen raschen Übergang zu Linux, Libreoffice und anderen quelloffenen Softwarelösungen. Auch die Stadtverwaltungen von Kopenhagen und Aarhus prüfen einen Microsoft-Ausstieg.
Frankreich hat bereits Erfahrungen gesammelt: Die französische Gendarmerie nutzt seit den 2000er Jahren das Linux-Betriebssystem und führte 2005 Openoffice.org als landesweiten Standard ein. Sie entwickelten sogar eine eigene Linux-Distribution namens Gendbuntu.
Die EU-Kommission selbst verhandelt mit europäischen Anbietern wie OVHcloud über den Ersatz ihrer Microsoft-Azure-Clouddienste, um als Trendsetter für digitale Souveränität im Cloudmarkt zu agieren. Ein erster Vertrag mit OVHcloud wurde bereits geschlossen.
Der deutsche Staat plant, über Client-Geräte und -Software hinaus von Microsoft-kontrollierter Cloudinfrastruktur auf deutsch kontrollierte Infrastruktur umzusteigen.
Auswirkungen für Bürger
Digitale Souveränität betrifft nicht nur Behörden und Unternehmen, sondern wirkt sich unmittelbar auf den Alltag der Bürger aus. Europäische Lösungen unterliegen strengen Datenschutzstandards, die in der Menschen in der EU mehr Kontrolle und Transparenz über ihre persönlichen Daten ermöglichen. Dies schafft Vertrauen und erleichtert die Akzeptanz digitaler Dienste. Gleichzeitig fördert ein solches Ökosystem Innovationen und Wettbewerb, die besser auf europäische und lokale Bedürfnisse zugeschnitten sind.
Die Infrastruktur wird resilient und sicher konzipiert, um Ausfällen und Angriffen standzuhalten. Offene Standards und Interoperabilität ermöglichen eine freie Wahl zwischen Anbietern und verhindern eine marktbeherrschende Monopolisierung. Wirtschaftspolitisch schafft dies Rahmenbedingungen, die gezielte Investitionen in europäische Technologieunternehmen fördern und lokale Arbeitsplätze sichern.
Herausforderungen und infrastrukturelle Defizite
Die Umstellung auf digitale Souveränität ist mit organisatorischen und technischen Hürden verbunden. Große Softwaremigrationen können auf Widerstand bei den Angestellten stoßen, insbesondere wenn Schulungen und Support unzureichend sind. Das Münchner Beispiel zeigt, wie politische Entscheidungen und mangelnde Unterstützung eine nachhaltige Umstellung erschweren können.
Hinzu kommen infrastrukturelle Defizite: Der aktuelle Digitalisierungsbericht der EU-Kommission offenbart, dass der Glasfaserausbau sowie der Aufbau unabhängiger 5G-Netze hinter den gesteckten Zielen zurückbleiben. Ende 2024 verfügten nur 69 Prozent der EU-Haushalte über einen Glasfaseranschluss; das Ziel von 100 Prozent bis 2030 ist damit weit entfernt. Deutschland liegt mit 36,8 Prozent deutlich unter dem EU-Durchschnitt.
Darüber hinaus erschweren fragmentierte Märkte, komplexe regulatorische Anforderungen und Sicherheitsrisiken eine zügige Umsetzung digitaler Unabhängigkeit.
EU-Strategien und politische Dimension
Trotz der Herausforderungen entwickelt die EU konkrete Strategien. Die beiden zentralen digitalen Abteilungen der Kommission berichten erstmals einer einzigen Vizepräsidentin, Henna Virkkunen, die für technologische Souveränität zuständig ist. Diese Konsolidierung soll die Harmonisierung politischer und technischer Prioritäten erleichtern.
Initiativen wie Eurostack fordern milliardenschwere Investitionen in gemeinsame IT-Plattformen, Datenräume und Standards, die ein „Europe-First“-Mandat umsetzen sollen. Der 2024 in Kraft getretene Interoperable Europe Act fördert aktiv den Einsatz von Open-Source-Software in öffentlichen Einrichtungen, um Abhängigkeiten zu verringern und Innovationen zu stärken.
Die EU unterstützt darüber hinaus gezielt Projekte und Unternehmen, die Alternativen zu US- und chinesischer Technologie entwickeln, etwa durch Programme zur Förderung europäischer Cloudinfrastrukturen wie Gaia-X. Insgesamt zielt die politische Strategie darauf ab, eine „digitale Kolonialisierung“ zu verhindern und Europa im digitalen Raum mehr Handlungsspielraum und Gestaltungsmacht zu verschaffen.
Der Erfolg von Pilotprojekten wie in Schleswig-Holstein wird maßgeblich bestimmen, ob andere Länder und Regionen folgen und ob Europa seine digitale Zukunft tatsächlich selbst in die Hand nehmen kann. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob sich diese technologischen und politischen Weichenstellungen bewähren oder ob die praktischen Herausforderungen die theoretischen Vorteile überwiegen.
Bild: Freepik.com
Frequently Asked Questions (FAQ):
Was bedeutet digitale Souveränität konkret für Europa?
Digitale Souveränität bedeutet, dass Europa die Kontrolle über seine Daten, IT-Infrastruktur und Software behält und nicht von außereuropäischen Anbietern abhängig ist. Ziel ist es, Datenschutz, Sicherheit und wirtschaftliche Unabhängigkeit zu gewährleisten.
Warum ist Microsoft in Europa so dominant?
Microsofts Betriebssysteme und Office-Software haben in Europa einen Marktanteil von über 70 Prozent, auch im öffentlichen Sektor. Europäische Alternativen sind oft nicht in vergleichbarer Qualität oder Verbreitung vorhanden, was die Abhängigkeit verstärkt.
Welche Risiken bestehen durch US-Gesetze wie den Cloud Act?
Der Cloud Act verpflichtet US-Unternehmen zur Herausgabe von Daten, auch wenn diese in Europa gespeichert sind. Dies widerspricht der EU-Datenschutz-Grundverordnung und gefährdet die Vertraulichkeit europäischer Daten.
Was sind die größten Herausforderungen bei der Umstellung auf digitale Souveränität?
Technische Komplexität, organisatorische Widerstände bei Angestellten, fehlende Schulungen sowie infrastrukturelle Defizite wie unzureichender Glasfaserausbau erschweren die Umsetzung.
Welche Rolle spielt Schleswig-Holstein im Wandel hin zur digitalen Unabhängigkeit?
Schleswig-Holstein ist das erste Bundesland, das Microsoft komplett durch Open-Source-Software ersetzt und eigene, öffentlich kontrollierte IT-Infrastruktur aufbaut. Das Projekt gilt als Pilot für andere Regionen.
Wie unterstützt die EU die digitale Souveränität?
Die EU bündelt Zuständigkeiten, investiert in gemeinsame IT-Plattformen und fördert Open Source sowie europäische Cloud-Lösungen wie Gaia-X, um Abhängigkeiten von US- und chinesischen Anbietern zu reduzieren.
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