Wer krank zur Arbeit geht, zahlt wochenlang dafür
63 Prozent der deutschen Angestellten gehen krank zur Arbeit, in der Annahme, schnell wieder fit zu werden. Eine neue Studie zeigt jedoch: Die Erschöpfung hält mehrere Wochen an, die erhoffte Genesung bleibt aus.
63 Prozent der deutschen Angestellten gehen krank zur Arbeit – und zahlen dafür mit wochenlanger Erschöpfung, wie eine neue Studie der TU Chemnitz zeigt.
Präsentismus verursacht laut Forschung deutlich längere Erholungsphasen und steigert das Risiko für Folgeerkrankungen wie Burnout oder Depressionen.
Unternehmen unterschätzen die Kosten: Produktivitätsverluste durch krank arbeitende Beschäftigte übersteigen die Ausgaben für Fehlzeiten um ein Vielfaches.
Montagmorgen, der Kopf dröhnt, der Hals kratzt. Trotzdem steht Gülce auf, macht sich fertig und fährt ins Büro. Die Präsentation kann nicht warten, das Team braucht sie. Nach drei Tagen Durchhalten wird es besser, zumindest oberflächlich. Was Gülce nicht ahnt: Ihr Körper wird noch Wochen brauchen, um sich wirklich zu erholen.
Eine aktuelle Studie der TU Chemnitz, der Universität Groningen und der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg zeigt, dass Präsentismus, also das Arbeiten trotz Krankheit, deutlich längere Erschöpfungsphasen auslöst als bisher angenommen. Die Forscher um Dr. Carolin Dietz untersuchten 123 Angestellte über 16 Wochen hinweg. Das Ergebnis: Die Erschöpfung steigt während der kranken Arbeitstage messbar an und bleibt mehrere Wochen danach erhöht. Eine schnelle Erholung, wie sie sich viele erhoffen, findet nicht statt.
Zwei Drittel der Deutschen arbeiten krank
Das Phänomen ist keine Randerscheinung. 63 Prozent der deutschen Angestellten gaben 2024 an, trotz ernsthafter Krankheit zur Arbeit gegangen zu sein. Frühere Erhebungen aus dem Jahr 2016 zeigen, dass damals 68,6 Prozent mindestens einmal pro Jahr krank arbeiten waren – im Schnitt an 12,6 Tagen.
Nach einem kurzen Rückgang während der Pandemie 2020/2021 ist Präsentismus wieder auf dem Niveau von vor Corona. Die Gründe dafür sind vielschichtig: 75 Prozent der Angestellten mit Existenzängsten arbeiten krank und 66 Prozent der Angestellten, die sich sicher in ihrem Job fühlen. Dazu kommen Zeitdruck, fehlende Vertretungen und die Sorge, Kollegen zu belasten.
Die neue Studie macht deutlich, dass sich die Folgen nicht auf einzelne Krankheitstage beschränken. Denn wer mehrfach krank arbeitet, zeigt zunehmend Anzeichen chronischer Erschöpfung. Die Forscher sprechen von einer Spirale: Jede Episode schwächt den Körper, die Erholungsphasen werden länger, das Risiko für die nächste Erkrankung steigt.
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Versteckte Kosten übersteigen Krankheitsausfälle
Aus betriebswirtschaftlicher Sicht rechnet sich Präsentismus ebenfalls nicht. Studien beziffern die Produktivitätsverluste durch kranke Angestellte am Arbeitsplatz auf das 2,6-Fache der medizinischen und pharmazeutischen Ausgaben. Andere Untersuchungen setzen die Verluste sogar siebenmal höher an als direkte Behandlungskosten. In Japan erreichten die Produktivitätseinbußen durch Präsentismus 46,73 Milliarden US-Dollar, gegenüber 1,85 Milliarden US-Dollar durch Fehlzeiten.
Die Rechnung klingt paradox: Angestellte sind zwar anwesend, aber ihre Leistung fällt deutlich ab. Fehler häufen sich, Entscheidungen dauern länger, kreative Prozesse stocken. Die Anwesenheit suggeriert Normalität, während die tatsächliche Arbeitsleistung einbricht.
Die gesundheitlichen Langzeitfolgen verschärfen das Problem zusätzlich. Präsentismus korreliert mit einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen und längere Krankschreibungen. Das Immunsystem schwächelt, chronische Infektionen werden wahrscheinlicher. Burnout und Erschöpfungssyndrome häufen sich.
Mentale Gesundheit als zusätzlicher Faktor
Die Überschneidung mit psychischen Belastungen verstärkt den Effekt. 43 Prozent der deutschen Angestellten berichten von arbeitsbedingtem Stress. Psychische Erkrankungen gehören mittlerweile zu den häufigsten Gründen für Krankschreibungen. Depressive Symptome stiegen von 9,2 Prozent im Jahr 2019 auf fast 22 Prozent Mitte 2024.
41 Prozent der deutschen Angestellten nutzen inzwischen psychologische Angebote – mehr als der europäische Durchschnitt von 38 Prozent. Auch hier legt die Dietz-Studie nahe, dass Präsentismus diesen Kreislauf befeuert: Wer krank arbeitet, verhindert Erholung und akkumuliert Stress, was wiederum psychische Probleme verstärkt.
Schrittweise Rückkehr als Gegenentwurf
Deutschland hat mit dem Hamburger Modell ein System etabliert, das eine stufenweise Wiedereingliederung ermöglicht. Nach längerer Krankheit können Angestellte mit 25 Prozent ihrer Arbeitszeit wieder einsteigen und die Belastung schrittweise steigern. Die Erkenntnisse aus der aktuellen Forschung untermauern, warum dieser Ansatz funktioniert: Der Körper braucht einfach Zeit – die Studienergebnisse zeigen das nun mit konkreten Daten.
Die Frage liegt nahe, ob eine schrittweise Rückkehr nicht auch bei kürzeren Krankheitsphasen sinnvoll sein könnte. Wer nach drei Tagen Grippe direkt wieder in Vollzeit einsteigt, läuft nach den Studienergebnissen Gefahr, die Erschöpfung zu verschleppen. Ein gradueller Wiedereinstieg, etwa mit reduzierten Stunden oder leichteren Aufgaben, könnte helfen, die Erholungsrate zu maximieren und erneute Ausfälle zu vermeiden.
Weniger Bürokratie, mehr Gesundheit
Parallel dazu gibt es Bestrebungen, die bürokratischen Hürden zu senken. Andreas Gassen, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, fordert eine Reform der Krankschreibungsregeln. Angestellte sollten demnach erst ab dem sechsten Krankheitstag eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen müssen. Momentan erlaubt das Gesetz zwar eine Karenzzeit von drei Tagen, doch viele Betriebe verlangen bereits am ersten oder zweiten Fehltag ein Attest.
Von den 116 Millionen jährlich ausgestellten Krankschreibungen in Deutschland entfallen etwa 40 Millionen auf Zeiträume von maximal drei Tagen – meist handelt es sich dabei um Schnupfen, leichte Erkältungen oder Magen-Darm-Infekte. Gassen beziffert die mögliche Zeitersparnis bei einer neuen Krankschreibungsregel im Gesundheitswesen auf 1,4 Millionen Arbeitsstunden und die Kostenersparnis auf rund 100 Millionen Euro jährlich. Die Reform würde Arztpraxen entlasten und gleichzeitig die Schwelle für Angestellte senken, bei ersten Krankheitsanzeichen zu Hause zu bleiben. Wer nicht erst zum Arzt muss, kann sich schnell komplett auf die Erholung konzentrieren und verhindert so möglicherweise, dass aus einem leichten Infekt eine längere Erkrankung mit wochenlanger Erschöpfung wird.
Letztlich bleibt Präsentismus trotz der großen Verbreitung und den dadurch entstehenden hohen Kosten unterschätzt. Die Forscher betonen, dass viele Menschen den Zeitbedarf für Erholung falsch einschätzen. Was oftmals als Durchhaltevermögen gilt, erweist sich langfristig als gesundheitlich schädlich. Statt die Anwesenheit eines kranken Mitarbeiters also als Engagement zu interpretieren, sollte sie als Warnsignal gelten.
Bild: Freepik.com
Frequently Asked Questions (FAQ):
Was bedeutet Präsentismus genau?
Präsentismus beschreibt das Verhalten, trotz Krankheit zur Arbeit zu gehen. Anders als bei Fehlzeiten entsteht der Schaden hier schleichend – durch sinkende Leistungsfähigkeit, längere Genesungszeiten und erhöhte Krankheitsrisiken.
Wie verbreitet ist das Phänomen in Deutschland?
Laut aktuellen Erhebungen arbeiten 63 Prozent der Beschäftigten krank – ein Niveau wie vor der Pandemie. Besonders verbreitet ist das Verhalten unter Menschen mit hoher Arbeitsbelastung oder Existenzängsten.
Welche Folgen hat das für die Gesundheit?
Die TU-Chemnitz-Studie zeigt: Wer krank arbeitet, bleibt länger erschöpft und anfälliger für Folgeerkrankungen. Wiederholter Präsentismus kann zu chronischer Erschöpfung, Burnout und psychischen Problemen führen.
Warum ist das auch ein wirtschaftliches Problem?
Produktivitätsverluste durch kranke Angestellte sind erheblich. Studien beziffern sie auf bis zu das 7-Fache der medizinischen Kosten – Anwesenheit ersetzt keine Leistungsfähigkeit.
Wie hängt das mit psychischer Gesundheit zusammen?
Präsentismus verstärkt Stress, Depressionen und Erschöpfungssymptome. Rund 43 Prozent der deutschen Angestellten berichten bereits von arbeitsbedingtem Stress – die Grenze zwischen körperlicher und psychischer Belastung verwischt zunehmend.
Was kann man dagegen tun?
Experten empfehlen, Erholung konsequent zuzulassen und Rückkehrphasen zu staffeln. Betriebe sollten offen über Krankheit sprechen, Vertretungen sichern und den Druck auf Anwesenheit reduzieren.
Welche Reformen sind geplant?
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung schlägt vor, Krankschreibungen erst ab dem sechsten Krankheitstag vorzulegen. So könnten Arztpraxen entlastet und Beschäftigte ermutigt werden, sich frühzeitig auszukurieren.
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