996: Von Shenzhen ins Silicon Valley und bald nach Berlin? Das Comeback der 72-Stunden-Woche

Ein Mann stützt sich erschöpft auf einem Arbeitstisch.

In China längst illegal, in Kalifornien wieder Trend: Das 996-Arbeitsmodell breitet sich in der Tech-Branche neu aus. Auch in Europa rückt die Debatte um längere Arbeitszeiten wieder in den Mittelpunkt.

Das 996-Arbeitsmodell – 9 bis 21 Uhr, sechs Tage pro Woche – erlebt in der globalen Tech-Branche ein stilles Comeback, obwohl es in China längst verboten ist.

In den USA preisen Start-ups 70- bis 80-Stunden-Wochen als Ausdruck von Leistungsbereitschaft, während Europa zwischen Flexibilisierung und Work-Life-Balance gespalten bleibt.

Deutschlands geplante Arbeitszeitreform könnte de facto 12-Stunden-Tage ermöglichen – ein Bruch mit dem Achtstundentag, der EU-weit als Testfall gilt.

Das sogenannte 996-Arbeitsmodell – arbeiten von 9 bis 21 Uhr, sechs Tage pro Woche – galt lange als Sinnbild des chinesischen Tech-Booms. Nun erlebt die 72-Stunden-Woche eine stillschweigende Renaissance, nicht in Shenzhen oder Peking, sondern in San Francisco und London. Auch Deutschland beginnt, über Arbeitszeitgrenzen neu zu verhandeln, inmitten eines Spannungsfelds zwischen Fachkräftemangel, Wettbewerbsdruck und wachsender Skepsis gegenüber der Vier-Tage-Woche.

Von der Protestbewegung zum Exportphänomen

Seinen Ursprung hat das 996-Modell in Chinas Tech-Szene der 2010er Jahre, als Unternehmen wie Alibaba, Bytedance und Huawei rasant expandierten. Befürworter sahen darin den Preis für Erfolg; Kritiker sprachen von moderner Ausbeutung.


2019 entstand auf Github eine landesweite Protestbewegung mit dem Namen Anti-996, getragen von Zehntausenden IT-Fachkräften. Die Kampagne machte auf Gesundheitsrisiken, Todesfälle und psychische Belastungen aufmerksam. Chinesische Medien berichteten von Angestellten, die unter „unmöglichen Deadlines“ litten, und von Fällen tödlicher Überarbeitung.


Nach wachsendem öffentlichen Druck erklärte Chinas Oberstes Volksgericht 2021, dass das 996-Arbeitsmodell gegen geltendes Arbeitsrecht verstoße. Das Arbeitsgesetz sieht eine Standardarbeitszeit von acht Stunden pro Tag und maximal 44 Stunden pro Woche vor; Überstunden müssen bezahlt werden. In der Praxis blieb die Umsetzung jedoch lückenhaft. In vielen Tech-Unternehmen bestehen faktisch weiterhin Arbeitszeiten von 60 Stunden und mehr, oft ohne Kompensation oder Kontrolle.


Ein britischer Expat, der in Guangzhou unter 996-Bedingungen arbeitete, beschrieb die Belastung als „unerträglich“ und fühlte sich „erleichtert“, als er entlassen wurde. „Selbst sonntags waren viele meiner Kollegen noch im Büro“, sagte er der International Business Times.

Silicon Valley: 996 als Symbol für Ambition

Mehr als vier Jahre nach dem chinesischen Verbot findet das Modell nun ausgerechnet im Westen Anklang – vor allem in der US-Tech-Branche. In Kalifornien und New York preisen Start-ups das Konzept als Ausdruck von Leistungsbereitschaft. Laut einem Bericht des Magazins Entrepreneur setzen Firmen wie Cognition und Rilla AI offen auf extreme Arbeitszeiten.


Cognition verlangt von neuen Angestellten eine 80-Stunden-Woche; laut CEO Scott Wu „ohne Glauben an eine Work-Life-Balance“. Rilla AI veröffentlichte eine Stellenausschreibung, in der ein Software Engineer gesucht wurde, der „rund 70 Stunden pro Woche im Büro“ arbeitet – bei einem Jahresgehalt zwischen 200.000 und 300.000 Dollar. Ein weiteres Beispiel liefert das AI-Start-up Icon, dessen CEO auf der Firmenkarriereseite von seinen „A-Players“ „Grind“ an Wochenenden und nachts erwartet sowie Rückantworten in „Minuten (oder Sekunden)“ [sic].


Der Trend hat strukturelle Ursachen: Seit 2022 haben US-Tech-Unternehmen mehr als 400.000 Stellen gestrichen. Historikerin Margaret O’Mara erklärt gegenüber der New York Times, dass viele Angestellte aus Angst vor Entlassung wieder zu „Altpraktiken“ greifen. Frühere Google-Führungskräfte wie Sergey Brin forderten in internen Memos sogar 60-Stunden-Wochen als „Sweet Spot der Produktivität“.


Auch Ex-Google-CEO und Waffenhändler Eric Schmidt kommentierte kürzlich in einem Podcast, die USA müssten „gegen China konkurrieren, das faktisch im 996-Modus arbeitet“. Dass China dieses Modell längst verboten hat, sei ihm bewusst – „aber sie tun es trotzdem“.


Eine Auswertung von Kreditkartentransaktionen der Finanzplattform Ramp zeigt, dass Beschäftigte im Silicon Valley 2025 erstmals verstärkt samstags Firmenkarten für Essen und Einkäufe nutzen – ein Indiz für systematisch verlängerte Arbeitswochen.

Deutschland diskutiert über Grenzen – und öffnet sie zugleich

In Deutschland ist das 996-Modell weder rechtlich zulässig noch kulturell akzeptiert. Dennoch wird das Thema indirekt durch die geplante Arbeitszeitreform der Merz-Regierung berührt. Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD sieht vor, die tägliche Höchstarbeitszeit aufzugeben und stattdessen eine wöchentliche Obergrenze von 48 Stunden einzuführen. Laut Berechnungen des Hugo-Sinzheimer-Instituts könnten damit Arbeitstage von über zwölf Stunden legal werden – ein Bruch mit dem traditionellen Achtstundentag.


Befürworter wie Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger argumentieren, diese Flexibilisierung passe „besser in das Zeitalter der Digitalisierung“. Kritiker wie die Chefin des Deutschen Gewerkschaftsbund Yasmin Fahimi (Paywall) sehen darin den Versuch, „rechtlich fragwürdige Geschäftsmodelle zu legalisieren“.


Gesellschaftlich stößt das Vorhaben auf Skepsis: Drei Viertel der Beschäftigten würden laut Umfragen weiterhin maximal acht Stunden täglich arbeiten wollen. 638 Millionen der jährlich geleisteten Überstunden in Deutschland bleiben unbezahlt, was zeigt, dass hohe Arbeitsbelastung längst Realität ist, ohne offiziell als „996“ bezeichnet zu werden.

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Europa zwischen Arbeitszeitverkürzung und neuer „Grind Culture“

In Europa zeigt sich derzeit ein deutlich gespaltenes Bild: Während einige Länder die Arbeitszeit weiter verkürzen und auf Work-Life-Balance setzen, wächst in Teilen der Tech- und Finanzszene eine Gegenbewegung, die an die „Grind Culture“ des Silicon Valley erinnert. Diese Entwicklungen laufen parallel angetrieben durch wirtschaftlichen Druck, Fachkräftemangel und geopolitischen Wettbewerb.


Die rechtliche Grundlage bildet weiter die EU-Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG, die eine durchschnittliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden pro Woche inklusive Überstunden erlaubt. Sie definiert oberste Grenzen, überlässt aber nationale Flexibilität in der Ausgestaltung. Einige Staaten, wie Deutschland, orientieren sich nun an diesem EU-Rahmen, um längere Arbeitstage und flexiblere Modelle zu ermöglichen. Die geplanten deutschen Reformen gelten als Testfall, der EU-weit Beachtung findet.

Südeuropa: Gegenmodell mit kürzeren Arbeitswochen

In Südeuropa entwickeln sich gegensätzliche Modelle. Spanien beschloss 2025 ein Gesetz zur Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf 37,5 Stunden bei vollem Lohn. Ziel ist, Überlastung zu senken und Produktivität zu steigern – bei gleichzeitigem Inflationsausgleich der Gehälter. Pilotprojekte zur Vier-Tage-Woche laufen dort seit 2023, unterstützt durch staatliche Subventionen. Italien hält an der 40-Stunden-Woche fest, fördert aber zunehmend hybride und saisonal angepasste Modelle, um Belastung und Sommerhitze auszugleichen.


Griechenland hingegen schlägt den entgegengesetzten Weg ein. Seit 2024 gilt dort in bestimmten Branchen, etwa Tourismus, Landwirtschaft und Einzelhandel, eine Sechs-Tage-Woche mit bis zu 48 Stunden. 2025 folgte das Fair-Work-for-All-Gesetz, das 13-Stunden-Tage an bis zu 37 Tagen pro Jahr erlaubt, sofern Beschäftigte zustimmen. Offiziell soll dies den Fachkräftemangel in der Hochsaison abfedern; Kritiker sehen darin eine Aushöhlung des Achtstundentages und eine schleichende Normalisierung von Selbstausbeutung. Griechenland bleibt damit das einzige EU-Land, das längere Arbeitstage und -wochen gesetzlich zulässt und markiert damit die deutlichste Abkehr vom europäischen Trend zur Arbeitszeitverkürzung.

Nordeuropa: Work-Life-Balance als Standortvorteil

Skandinavische Länder behaupten sich mit Balance-Konzepten als Vorbilder. In Dänemark und Finnland laufen seit Jahren Modelle mit Vier-Tage-Wochen oder Sechs-Stunden-Tagen, begleitet von Produktivitätszuwächsen und höherer psychischer Gesundheit. Die Niederlande gelten laut dem European Life-Work Balance Index 2025 als eines der Länder mit der besten Work-Life-Balance, zusammen mit Irland und Island.


Diese Länder setzen auf digitale Infrastruktur, Vertrauen und Autonomie, wodurch lange Arbeitszeiten strukturell unattraktiv sind. Der Fokus liegt auf Output, nicht auf Präsenz.

Angloamerikanischer Druck und VC-getriebene Grind Culture

Parallel dazu formiert sich in der europäischen Tech-Branche eine leistungsorientierte Gegenkultur, die stark vom US- und UK-Markt beeinflusst ist. Mehrere Venture-Capital-Investoren – etwa Harry Stebbings (20VC) und Index Ventures Partner Martin Mignot – propagieren seit Mitte 2025 offen längere Arbeitswochen für Gründer, um gegenüber den USA und China konkurrenzfähig zu bleiben.


Diese Haltung löste EU-weit eine heftige Debatte aus: Viele europäische Gründer wiesen die Forderung als „Hustle-Porn“ zurück. Laut einem CNBC-Bericht erklärten Gründerinnen wie Sarah Wernér (Husmus, Schweden), was Europa brauche, seien bessere Finanzierung und Innovationsförderung, nicht 996-Zeiten. Dennoch ist der Einfluss spürbar: In London und Berlin mehren sich Anzeichen einer stillen Normalisierung von 60-Stunden-naher Wochen, vor allem in VC-finanzierten Start-ups mit globalem Wettbewerbsdruck.

Frankreich und Mittelosteuropa

Frankreich bleibt beim traditionsreichen 35-Stunden-Modell, zeigt aber leichte Flexibilisierungstendenzen durch branchenspezifische Ausnahmen. In Polen, Tschechien und Ungarn wird dagegen über verlängerte Wochenarbeitszeiten zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit debattiert. Diese Länder liegen mit durchschnittlich 40–42 Wochenstunden ohnehin im oberen EU-Feld.


In Ost- und Südeuropa gilt insbesondere in Fertigungs- und IT-Offshoring-Sektoren ein De-facto-Arbeitsdruck, der weitaus stärker an US-Grind-Praktiken erinnert, oft informell und außerhalb tariflicher Kontrolle.


Letztlich stellt sich für Europa und Deutschland weniger die Frage, ob das 996-Modell Einzug hält, sondern, ob Flexibilisierung zur schleichenden Normalisierung längerer Arbeitszeiten führt. Der wirtschaftliche Druck, schneller zu innovieren, trifft auf politische Reformen, die den Achtstundentag relativieren.


Noch überwiegt in Europa das Modell der „Calm Productivity“. Doch in den global vernetzten Tech-Zentren wächst eine Gegenkultur, die Effizienz mit Erreichbarkeit verwechselt. Das 996-Prinzip wird dabei wahrscheinlich nicht importiert, sondern übersetzt: in Überstunden, Always-on-Mentalität und Wochen ohne klare Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit.


Bild: Freepik.com

Frequently Asked Questions (FAQ):

Was bedeutet das 996-Arbeitsmodell?

„996“ steht für Arbeitszeiten von 9 bis 21 Uhr an sechs Tagen pro Woche – also 72 Stunden insgesamt. Es wurde in Chinas Tech-Branche der 2010er-Jahre populär, gilt dort inzwischen als illegal, bleibt aber vielerorts Praxis.

Warum erlebt 996 ein Comeback?

In der US-Tech-Szene gilt extreme Arbeitsbereitschaft wieder als Zeichen von Ambition und Wettbewerbsfähigkeit. Nach Massenentlassungen setzen viele Start-ups auf längere Arbeitszeiten, um Produktivität und Kapitalrendite zu steigern.

Wie reagiert Europa auf diese Entwicklung?

Während Länder wie Spanien Arbeitszeiten verkürzen, prüfen Deutschland und Griechenland flexiblere Modelle mit längeren Arbeitstagen. Die EU erlaubt im Schnitt bis zu 48 Stunden pro Woche – innerhalb dieses Rahmens wird zunehmend interpretiert.

Was sind die Risiken des 996-Modells?

Lange Arbeitszeiten erhöhen das Risiko von Burn-out, Unfällen und psychischer Erschöpfung. Studien zeigen: Produktivität sinkt nach acht Stunden spürbar, während Stress und Fehlzeiten steigen.

Kommt 996 auch nach Deutschland?

Formal nein – gesetzlich bleibt die 48-Stunden-Woche die Obergrenze. Doch durch wöchentliche statt tägliche Begrenzungen könnten in Zukunft faktisch längere Arbeitstage möglich werden. Kritiker warnen vor einer „schleichenden 996-Normalisierung“.

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