Die Zeitfalle: Warum "mehr arbeiten" die falsche Antwort auf Deutschlands strukturelle Krise ist

Ein Bild vom deutschen Bundestag.

Deutschland arbeitet bereits so viel wie noch nie – 55 Milliarden Arbeitsstunden sind ein historischer Höchststand. Während die Politik über noch längere Arbeitszeiten diskutiert, bleiben produktive Lösungen für die strukturellen Probleme des Landes auf der Strecke.

Trotz Rekordarbeitsstunden verengt die Politik die Debatte auf Arbeitszeitverlängerung und übersieht die strukturellen Ursachen der Wirtschaftskrise.

Die Ursachen der Wirtschaftskrise liegen in sinkender Wettbewerbsfähigkeit, Innovationsdefiziten und Fachkräftemangel, nicht in Arbeitsunwilligkeit.

Statt längerer Arbeitszeiten fordern Experten Investitionen in Bildung, Innovation, Bürokratieabbau und moderne Arbeitszeitmodelle wie die Viertagewoche.

Deutschland steckt in einer strukturellen Wirtschaftskrise. Die Bundesbank schlägt Alarm: Deutsche Exportmarktanteile sinken kontinuierlich seit 2017, die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen verschlechtert sich dramatisch. Statt jedoch die tiefliegenden Ursachen anzugehen, setzt die Politik auf populistische Symptombekämpfung: "Die Deutschen müssen mehr arbeiten."


In seiner ersten Regierungserklärung im Mai 2025 machte Bundeskanzler Friedrich Merz die Marschrichtung klar: "Leistung muss sich wieder lohnen" und "Wir geben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Betrieben mehr Flexibilität durch eine wöchentliche statt einer täglichen Höchstarbeitszeit." Die Debatte reicht von der Diskussion über die Abschaffung eines Feiertags über die Abkehr von Work-Life-Balance bis zur Infragestellung des Achtstundentages zugunsten einer Flexibilisierung auf bis zu 13 Stunden täglich.


Die Debatte verkennt jedoch die Realität. Deutschland leidet nicht unter Arbeitsunwilligkeit, sondern unter jahrzehntelangen strukturellen Versäumnissen – und einer bereits dramatischen Zeitarmut, die weitere Belastungen unmöglich macht.

In Deutschland wird mehr denn je gearbeitet

Die Behauptung mangelnder Arbeitsbereitschaft lässt sich statistisch widerlegen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) errechnet für das Jahr 2023 ein Gesamtarbeitsvolumen von knapp 55 Milliarden Arbeitsstunden – ein historischer Höchststand. Die seit 1991 kontinuierlich gestiegenen Arbeitsstunden von 52,2 auf 54,7 Milliarden zeigen: Der Vorwurf, die Deutschen hätte kein "Bock auf Arbeit", ist falsch.


In Deutschland arbeiten vier von fünf Menschen, die dazu in der Lage sind. Das ist mehr als in jedem anderen Industriestaat. Nach OECD-Zahlen arbeiten Deutsche im erwerbsfähigen Alter im Schnitt 1.036 Stunden pro Jahr. Gleichzeitig führt Deutschland bei den Überstunden: 552 Millionen bezahlte und 638 Millionen unbezahlte Überstunden wurden 2024 geleistet.


Der niedrigere Stundendurchschnitt im EU-Vergleich resultiert aus dem hohen Teilzeitanteil von knapp einem Drittel aller Beschäftigten. Jedoch sind 74 Prozent der deutschen Frauen erwerbstätig – mehr als der EU-Durchschnitt von 66 Prozent.

Gründe für die Wirtschaftskrise

Bundesbank-Präsident Joachim Nagel weist darauf hin, dass die Exportschwäche nicht erst mit der Pandemie oder dem Ukraine-Krieg begann, sondern bereits seit den späten 2010er Jahren an Fahrt verliert. Zwar belasteten die Energiekrise und globale Lieferkettenstörungen die Industrie, doch die Ursachen liegen tiefer: Drei Viertel der Marktanteilsverluste seit 2021 sind auf eine verschlechterte Wettbewerbsfähigkeit zurückzuführen. Besonders betroffen sind energieintensive Branchen wie Chemie und Metall, die unter den hierzulande überdurchschnittlich hohen Energiepreisen ächzen. Gleichzeitig offenbarten die Pandemie-Jahre, wie anfällig deutsche Unternehmen für Lieferkettenrisiken sind – ein strukturelles Versäumnis, das internationale Konkurrenten schneller ausglichen.


Doch nicht nur externe Schocks schwächen die Exportwirtschaft: Der deutsche Warenmix, einst ein Erfolgsgarant, passt nicht mehr zur globalen Nachfrage. Während die Automobilindustrie mit sinkender Nachfrage nach Verbrennern kämpft, verliert auch die Luftfahrttechnik an Boden. Hinzu kommt der wachsende Konkurrenzdruck aus China, das gezielt in mittel- und hochtechnologische Güter investiert – jenes Segment, in dem Deutschland einst führend war.


Doch die Ursachen für den Verlust an Wettbewerbsfähigkeit reichen tiefer: Der demografische Wandel, Fachkräftemangel und steigende Lohnstückkosten sind nur die meistdiskutierten Aspekte. Die Tatsache, dass Deutschland in der Liste der innovativsten Nationen der Vereinten Nationen von China überholt und aus den Top 10 verdrängt wurde, ist eine direkte Folge struktureller Versäumnisse: von der systemischen Vernachlässigung des Bildungssystems über die lobbygetriebene Bevorzugung bestehender Industriestrukturen bis zur ausufernden Bürokratie eines überlasteten Behördenapparats. Diese Probleme lassen sich nicht durch längere Arbeitszeiten lösen.

Zeitarmut: Die übersehene Belastungsgrenze

Während die Politik mehr Arbeit fordert, zeigen die Daten eine Gesellschaft am Rande der Belastungsgrenze. Mehr als die Hälfte der 18- bis 55-Jährigen in Deutschland fühlt sich oft oder sehr oft gehetzt und leidet unter Zeitdruck. Psychische Belastungserscheinungen wie Burnout haben in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen – ein Trend, den Fehlzeitenreporte und Krankenkassenberichte bestätigen.


Gesundheitsexperten warnen eindringlich vor den Folgen längerer Arbeitszeiten. "Nach acht Stunden steigt das Unfallrisiko bei der Arbeit, die Konzentration nimmt ab, die Produktivität nimmt ab, das Gesundheitsrisiko steigt", erklärte die Soziologin Yvonne Lott von der Hans-Böckler-Stiftung dem Deutschlandfunk (Dlf). Der Achtstundentag wurde von der Arbeiterbewegung als Gesundheitsschutz erkämpft und hat diese Funktion bis heute.


Die Zeitarmut verteilt sich hochgradig ungerecht. Im Jahr 2022 leisteten Frauen im Schnitt pro Tag 1 Stunde und 19 Minuten mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer – ein Gender-Care-Gap von 44,3 Prozent. Durchschnittlich vier von zehn Frühverrentungen gehen inzwischen auf das Konto psychischer Erkrankungen, wobei Frauen mit 49 Prozent deutlich häufiger betroffen sind als Männer mit 36,5 Prozent.


Zeitarmut verteilt sich auch geografisch ungleich. 35 Jahre nach dem Mauerfall arbeiten Beschäftigte in den neuen Bundesländern noch immer länger als in Westdeutschland bei weniger Urlaub. Die geringere Tarifbindung im Osten – nur 31 Prozent profitieren von Branchentarifverträgen verglichen mit 44 Prozent im Westen – führt zu schlechteren Arbeitsbedingungen.


Auch Stadt-Land-Unterschiede verschärfen die Situation. 27 Millionen Menschen leben in Gemeinden mit schlechtem ÖPNV-Angebot. Zusätzliche Pendelzeiten reduzieren die ohnehin knappe Zeit weiter.

Qualität vor Quantität: Was wirklich funktioniert

Ein Blick in die USA zeigt, wohin eine Kultur der permanenten Arbeitsbereitschaft führt. 62 Prozent der US-amerikanischen Arbeitnehmer nehmen ihre zugeteilte Freizeit nicht in Anspruch und lassen etwa ein Drittel der jährlichen Urlaubstage ungenutzt. Experten sprechen von Time Poverty, die mit geringerem mentalem Wohlbefinden, niedrigerer Produktivität und schlechterer körperlicher Gesundheit verbunden ist. Eine Studie zeigt, dass subjektive Gefühle von Zeitarmut einen stärkeren negativen Effekt auf das Wohlbefinden haben als Arbeitslosigkeit. Dennoch wird das Problem von Politik und Arbeitgebern oft übersehen.


Während manche Politiker den Blick nach Ostasien richten, um Deutschlands Arbeitszeit als vermeintlich zu gering zu brandmarken, zeigt ein Vergleich mit Japan und Südkorea, dass längere Arbeitszeiten keineswegs Wohlstand und Innovation garantieren. Trotz chronisch hoher Wochenstunden – Arbeitnehmer in Südkorea erbringen mit durchschnittlich etwa 1.900 Stunden pro Jahr (Vgl. Dtl.: 1.036 Stunden) und japanische Beschäftigte traditionell mit ähnlich langen Arbeitszeiten eine der höchsten Werte unter den OECD-Ländern – stagnieren die volkswirtschaftlichen Pro-Kopf-Leistungen oder wachsen deutlich langsamer als etwa in Nordeuropa.


In beiden Ländern hat die Kultur der "Mehrarbeit" gravierende Schattenseiten: Die Suizidraten gehören zu den höchsten der industrialisierten Welt, und Studien belegen einen klaren Zusammenhang zwischen überlangen Arbeitszeiten, psychischen Erkrankungen, Burnout und Todesfällen durch Überarbeitung – Stichwort Karoshi und Gwarosa. Die Lebensqualität leidet, und paradoxerweise bleibt auch die gesamtwirtschaftliche Produktivität weit hinter dem Erhofften zurück, weil Überstunden eher zu gesundheitlichen Problemen und Fehlzeiten führen als zu mehr Output. Die Lehre: Mehr Arbeitszeit bedeutet im internationalen Vergleich keineswegs mehr Wohlstand oder Wettbewerbsfähigkeit – im Gegenteil, sie gefährdet die Gesundheit und Innovationskraft einer Gesellschaft.


Auch europäische Erfahrungen bestätigen, dass Produktivität nicht linear mit der Zahl der Arbeitsstunden steigt. Im Rahmen eines britischen Pilotprojekts zahlten 61 Firmen ihren Mitarbeitern ein halbes Jahr lang volles Gehalt bei vier Arbeitstagen. Das Ergebnis: Der Umsatz stieg um 1,4 Prozent, Krankheitstage gingen um 65 Prozent zurück. 56 von 61 Unternehmen wollten die Vier-Tage-Woche dauerhaft einführen.


Viele Deutsche wünschen sich bereits heute kürzere Arbeitszeiten: 2020 war die Wunsch-Arbeitszeit mit 32,8 Stunden pro Woche so niedrig wie nie seit Beginn der Erhebung. Menschen wollen nicht mehr, sondern intelligenter verteilte Arbeitszeit.

Die falschen Schuldigen: Flexibilisierung als Falle

Die aktuelle Debatte um "Flexibilisierung" – längere tägliche Arbeitszeiten bei wöchentlicher Begrenzung – ignoriert dabei das Flexibility Paradox: Was flexibel und selbstbestimmt scheint, führt meist zu längeren Arbeitszeiten und verschwimmenden Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. "Dieses Gefühl, immer online zu sein, immer verbunden zu sein mit der Arbeit, führt längerfristig zu gesundheitlichen Problemen", warnte die Soziologin Bettina Stadler im Deutschlandfunk.


Gleichzeitig diskreditiert die Politik New-Work-Konzepte wie Homeoffice und flexible Arbeitszeiten als Luxus, obwohl sie nachweislich zu höherer Produktivität führen. Während CEO- und Manager-Gehälter überproportional wachsen und Angestelltengehälter stagnieren, könnte eine Rückkehr zu längeren Arbeitszeiten ohne entsprechende Kompensation die Ungleichheit weiter verschärfen.


Besonders problematisch: Die Debatte um Arbeitsanreize spricht vor allem Männer an, "die dann eventuell noch länger arbeiten und noch weniger von der Sorgearbeit auf sich nehmen würden", befürchtet die Soziologin Lott. Statt einer gleichmäßigeren Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit drohe eine weitere Retraditionalisierung.

Die richtigen Lösungen: Innovation statt Arbeitszeit

Statt auf mehr Arbeitsstunden zu setzen, sollte Deutschland die von der Bundesbank identifizierten Strukturprobleme angehen:

Bildung und Innovation:

  • Massive Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung
  • Vereinfachung der Start-up-Gründung und Förderung von Unternehmertum
  • Digitalisierung der Verwaltung und Schulen
  • Stärkung der beruflichen Weiterbildung

Strukturelle Reformen:

  • Drastischer Bürokratieabbau, besonders für kleine und mittlere Unternehmen
  • Vereinfachte und beschleunigte Fachkräfte-Immigration
  • Effizientere Energiewende und Diversifizierung der Lieferketten
  • Steuerliche Anreize für Investitionen und Innovationen

Intelligente Zeitpolitik:

  • Die Soziologin Nicole Mayer-Ahuja schlägt im Deutschlandfunk eine "kurze Vollzeit als neue Normalarbeitszeit" vor: 30 Stunden pro Woche für alle, mit Lohn- und Personalausgleich
  • Anhebung des gesetzlichen Mindesturlaubs von 20 auf 25 Tage
  • Optionszeiten-Modelle für flexible Lebensläufe
  • Anti-Stress-Verordnung gegen übermäßige Arbeitsverdichtung und ständige Erreichbarkeit
  • Bessere Vereinbarkeit durch Investitionen in Infrastruktur

Alternative Arbeitsmodelle: Studien zur Viertagewoche zeigen eindeutige Vorteile: zufriedenere, mental und körperlich gesündere Mitarbeiter bei leicht gestiegener Produktivität. Ein Großteil der teilnehmenden Unternehmen will dauerhaft umstellen. Der DIW-Ökonom Mattis Beckmannshagen sieht laut Deutschlandfunk großes Potenzial bei Frauen, die oft in Teilzeit arbeiten, sich aber "häufig eine Ausweitung ihrer Arbeitszeit" wünschen – bei besserer Kinderbetreuung und steuerlichen Anreizen.

Zeit für echte Reformen statt leerer Worte

Merz hat einen Herbst der Reformen angekündigt, doch konkrete Maßnahmen stehen noch aus. Kritiker monieren, dass die Debatte bisher vor allem um eine Verlängerung der Arbeitszeit kreist – ein Ansatz, der die eigentlichen Herausforderungen verfehlt. Denn Deutschland braucht keine erschöpften Arbeitnehmer, die politische und wirtschaftliche Fehlentscheidungen der letzten Jahrzehnte ausbügeln sollen. Das Land braucht eine mutige Reformpolitik, die in Bildung, Innovation und Zukunftstechnologien investiert.


Eine moderne Wirtschaftspolitik muss die Zeitarmut ernst nehmen und gleichzeitig die strukturellen Defizite angehen. Tatsächlich braucht Deutschland keine kurzfristigen Adaptionen, sondern eine langfristige Strategie: Investitionen in Bildung, Innovation und Zukunftstechnologien, wie sie auch die Bundesbank fordert. Dazu gehören der Abbau von Bürokratie, gezielte Fachkräfte-Immigration, attraktivere Arbeitsanreize und steuerliche Impulse für Investitionen.


Bild: Bundestag / Tobias Koch

Frequently Asked Questions (FAQ):

Arbeiten die Deutschen wirklich zu wenig?

Nein. Mit 55 Milliarden Arbeitsstunden im Jahr 2023 und über 1,1 Milliarden Überstunden arbeiten die Deutschen bereits so viel wie nie zuvor.

Was sind die wahren Ursachen der Krise?

Die Bundesbank sieht Gründe vor allem in einer schwachen Wettbewerbsfähigkeit, hohen Energiepreisen, Fachkräftemangel, Innovationsdefiziten und übermäßiger Bürokratie.

Warum ist längeres Arbeiten problematisch?

Studien zeigen: Nach acht Stunden steigt das Unfall- und Krankheitsrisiko, während Produktivität und Konzentration sinken. Längere Arbeitstage verschärfen Zeitarmut und Burnout.

Welche Alternativen zu längeren Arbeitszeiten gibt es?

Pilotprojekte zur Viertagewoche belegen höhere Produktivität und weniger Krankheitsausfälle. Auch flexible Modelle wie kurze Vollzeit oder Optionszeiten werden diskutiert.

Welche Reformen sind langfristig nötig?

Experten fordern massive Investitionen in Bildung, Digitalisierung und Innovation, eine erleichterte Fachkräfte-Immigration, Steueranreize für Unternehmen und eine entschlossene Entbürokratisierung.

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