Revenge RTO: Wie Unternehmen durch Präsenzzwang Vertrauen verspielen

Manche Mitarbeiter reagieren auf erzwungene Büropräsenz mit kleinen Vergeltungsmaßnahmen: Sie kommen später, gehen früher und nehmen Büromaterial mit nach Hause. Experten sehen darin ein Alarmsignal für Führungskräfte und warnen vor den Folgen ignorierter Mitarbeiterbedürfnisse.
Drei Jahre nach Beginn der Pandemie wird in vielen Unternehmen weltweit die Rückkehr ins Büro durchgesetzt. Doch während Führungskräfte die Präsenzkultur wieder aufleben lassen wollen, reagieren viele Mitarbeiter mit subtilen Protestformen. Sie kommen später, gehen früher oder bedienen sich großzügig am Snack-Angebot; kleine Akte des Widerstands gegen das, was viele als unfaire RTO-Mandate (Return-to-Office) empfinden.
"Ich halte meinen Kühlschrank zu Hause vollständig mit Getränken aus dem Büro gefüllt", berichtet eine Angestellte aus Chicago gegenüber Fortune. "Wenn die Aktionäre mein Gehalt bekommen, nehme ich zumindest drei Gatorades und ein paar Uncrustables mit nach Hause." Die Mitarbeiterin, die wie andere Befragte anonym bleiben möchte, sieht dies als ihr Recht an, nachdem ihr Arbeitgeber die Präsenzpflicht für mehrere Tage pro Woche wieder eingeführt hat.
Die Psychologie des Widerstands
Experten sehen in diesen kleinen Vergeltungsmaßnahmen mehr als nur Petitessen. "Wenn Mitarbeiter etwas als unfair empfinden, handeln sie, um es fair zu machen", erklärt Peter Cappelli, Professor für Management und Direktor des Centers for Human Resources an der Wharton Business School der University of Pennsylvania. Diese Verhaltensweisen spiegeln letztlich ein Führungsproblem wider.
Denise Rousseau, Professorin für Organisationsverhalten an der Carnegie-Mellon-Universität, nennt dieses Phänomen "kontraproduktives Arbeitsverhalten" – ein freiwilliges Verhalten, das gegen organisatorische und soziale Normen am Arbeitsplatz verstößt. "Die Auslöser sind unfaire Behandlung, gebrochene Versprechen oder die Wahrnehmung eines Arbeitgebers, dem die Interessen der Mitarbeiter nicht am Herzen liegen", sagt Rousseau. "Wenn dieses Verhalten zunimmt, liegt es daran, dass Arbeitgeber eine implizite Vereinbarung verletzt haben."
Die COVID-19-Pandemie führte zu einer grundlegenden Veränderung der Arbeitskultur, als Millionen von Angestellten quasi über Nacht ins Homeoffice wechselten. Als die Pandemiebeschränkungen gelockert wurden, erlaubten viele Unternehmen zunächst flexible Arbeitsmodelle. Doch diese Privilegien wurden schrittweise zurückgenommen, während Führungskräfte zunehmend darauf bestehen, dass Mitarbeiter die meiste oder ganze Zeit im Büro verbringen.
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Verlorenes Vertrauen wiederherstellen
Für Arbeitgeber und -nehmer bleiben die Vorteile von Remote-Arbeit bestehen. Denn die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten, erweitert nicht nur den Bewerberpool für Unternehmen und damit die Qualität der Bewerber – laut Flexjobs-Studie wünschen sich ganze 95 Prozent der Arbeitnehmer auch irgendeine Form von Remote-Arbeit. "Da Telearbeit ein so geschätzter Vorteil ist, überrascht es mich nicht, dass Unternehmen, die eine RTO-Pflicht einführen, Mitarbeiter haben, die von dieser Entscheidung nicht begeistert sind", sagt Toni Frana, Karriereexpertin bei Flexjobs.
Die Beispiele für kleinen Widerstand sind vielfältig. Eine Vertragsangestellte der New Yorker Stadtverwaltung erzählt, dass sie nicht mehr für ihre Mittagspause ausstempelt und der Behörde diese Zeit nun in Rechnung stellt. "Ich werde das einfach weitermachen", sagt sie. "Ich habe eine miese Krankenversicherung, also gleicht es das aus."
In einem Luxusgüterunternehmen in New York, wo Mitarbeiter vier Tage pro Woche im Büro sein müssen, beobachtet eine Angestellte, wie Kollegen für Fitnesseinheiten verschwinden oder Lebensmittel für ihre Familien mitnehmen. Sie fügt hinzu, dass wenn ein Manager oder eine Führungskraft früher geht, andere Mitarbeiter es ihnen gleichtun.
Während einige Führungskräfte geneigt sein könnten, hart gegen solche Verhaltensweisen vorzugehen, raten Experten zur Vorsicht. "Bevor ich mich als Arbeitgeber über Ungehorsam aufrege, ist es wichtig zu erkennen, dass ständig alle möglichen Regeln verletzt werden", sagt Cappelli. Das gilt besonders für neue Arbeitsplatznormen, die sich erst kürzlich geändert haben. Warum sollten Angestellte die Änderungen ernst nehmen, wenn die Notwendigkeit nicht kommuniziert wurde und das Modell vorher gut funktioniert hat?
RTO-Konflikt: Keine einfache Trotzreaktion
Der Widerstand gegen Rückkehr-ins-Büro-Mandate ist vielschichtiger als ein einfacher Unwille, den Arbeitsweg auf sich zu nehmen. Hinter den kleinen Vergeltungsmaßnahmen verbergen sich tiefere gesellschaftliche und psychologische Faktoren, die von Unternehmen oft übersehen werden.
Die wirtschaftliche Dimension: Remote-Arbeit hat nicht nur Vorteile für die Work-Life-Balance der Mitarbeiter, sondern auch handfeste wirtschaftliche Konsequenzen. Mitarbeiter sparen Pendelkosten (Zeit, Geld für Transport, Verschleiß an Fahrzeugen), während Unternehmen Einsparungen bei Büroflächen realisieren können. Ein erzwungenes RTO ohne Ausgleich dieser neu entstehenden Kosten für Mitarbeiter kann als einseitige Verschiebung der finanziellen Last wahrgenommen werden.
Die Vertrauensfrage: Ein abrupter Wechsel zurück ins Büro signalisiert implizit ein Misstrauen gegenüber der Produktivität im Homeoffice, obwohl viele Unternehmen während der Pandemie Rekordgewinne verzeichnet haben. Dieses wahrgenommene Misstrauen untergräbt die Loyalität und kann die kleinen Vergeltungsmaßnahmen zusätzlich befeuern.
Die Generationenfrage: Jüngere Generationen, besonders Millennials und Gen Z, sehen flexible Arbeitsmodelle nicht als Privileg, sondern als Grundvoraussetzung. Unternehmen, die starre RTO-Mandate durchsetzen, riskieren nicht nur kurzfristigen Widerstand, sondern langfristig auch ihre Attraktivität für junge Talente.
Die Machtdynamik: In vielen Fällen werden RTO-Entscheidungen von Führungskräften getroffen, die selbst über mehr Flexibilität und Privilegien verfügen. Diese Disparität zwischen den „Regelmachern“ und den „Regelunterworfenen“ verstärkt das Gefühl der Ungerechtigkeit und triggert Verhaltensweisen, die diese Machtungleichheit symbolisch ausgleichen sollen, wie etwa das Mitnehmen von Büromaterial oder das „Stehlen“ von Arbeitszeit.
Die psychologische Belastung: Der abrupte Wechsel zurück ins Büro bedeutet für viele Mitarbeiter eine erhebliche Umstellung ihrer Lebensroutinen. Manche haben in der Remote-Zeit Betreuungspflichten übernommen, Haustiere angeschafft oder sind umgezogen. Die psychologischen Kosten dieser erzwungenen Umstellung werden von Unternehmen oft unterschätzt, während sie gleichzeitig über Mitarbeiterzufriedenheit und psychische Gesundheit am Arbeitsplatz sprechen.
Das grundlegende Problem bleibt: Viele RTO-Mandate werden ohne überzeugende Begründung und ohne Dialog eingeführt, was den impliziten Sozialvertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer verletzt und die beschriebenen Vergeltungsmaßnahmen als Form der Wiederherstellung einer subjektiv empfundenen Gerechtigkeit provoziert.
Wege nach vorn
Für Unternehmen, die Vorfälle von RTO-Vergeltung reduzieren möchten, ist die Lösung laut Experten recht einfach: Mitarbeiterfeedback ernst nehmen. Townhall-Meetings, anonyme Umfragen und das Sammeln von Feedback von Managern sind verschiedene Wege, um besser zu verstehen, welche Arbeitsregelungen mit der Produktivität der Mitarbeiter vereinbar sind und welche Richtlinien ihr Vertrauen zurückgewinnen werden.
Die aktuellen Spannungen rund um RTO-Mandate verdeutlichen einen breiteren gesellschaftlichen Wandel in der Arbeitswelt. Die Pandemie hat nicht nur gezeigt, dass viele Tätigkeiten remote durchführbar sind, sondern auch die Erwartungen der Arbeitnehmer grundlegend verändert. Unternehmen stehen nun vor der Herausforderung, tragfähige Kompromisse zu finden, die sowohl den betrieblichen Erfordernissen als auch den veränderten Bedürfnissen ihrer Mitarbeiter gerecht werden.
Bild: Pexels.com
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