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Burnout in der IT: "Es ging einfach nichts mehr"
Geht es um die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter, appellieren Firmen oft an deren Eigenverantwortung. Doch vor allem in der Pandemie reicht das nicht.
Von Pauline Schinkel
In einer Nacht ging es nicht mehr. Zu diesem Zeitpunkt hatte Rüdiger Striemer bereits drei Monate weitergearbeitet - trotz der anfänglichen Schwindelgefühle, der ansteigenden Angst, der anschließenden Panikattacken. Striemers Körper und Stimme zitterten, der Puls raste. Irgendwann rief er den Notarzt, der ihm Valium gab. Am nächsten Tag fuhr ihn seine Nachbarin in eine psychosomatische Klinik. Die Ärzte diagnostizierten eine Panikstörung und eine Depression.
Zum Zeitpunkt der Diagnose war Striemer Vorstand eines börsennotierten IT-Unternehmens, das er über Jahrzehnte mitaufgebaut hatte. Als er dort Ende der 1990er Jahre anfing, waren sie 30 Mitarbeitende. 2021, gut zwei Jahrzehnte später, waren es knapp 5.100, verteilt auf über 39 Standorte. Striemer hat den Betrieb heranwachsen sehen - und wuchs mit ihm. Von Jahr zu Jahr stieg seine Verantwortung für Personal und Projekte.
Irgendwann bemerkte er ein pochendes Druckgefühl im Kopf, das nicht mehr wegging. Dann kamen Angst und Panik. Trotzdem machte er weiter, bis zu jener Nacht. "Es ging einfach nichts mehr", sagt er. "Die Entscheidung für den Klinikaufenthalt war alternativlos."
Pandemiejahr als psychische Belastung
Existenzängste, Isolation und aufgeweichte Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben: Gerade das vergangene Coronajahr haben viele Menschen als psychische Belastung empfunden. Eine Folge war, dass Berufstätige sich erschöpft fühlten. Das zeigen die Ergebnisse einer Studie des psychologischen Instituts der Technischen Universität (TU) Chemnitz.
Dazu, wie es speziell den IT-Fachkräften derzeit geht, gibt es keine Umfragen oder Daten. Es ist aber anzunehmen, dass gerade sie eine Menge Stress hatten - mussten sie doch quasi ad hoc die digitale Homeoffice-Infrastruktur für Tausende Mitarbeiter errichten.
Einen Hinweis geben die psychisch bedingten Krankschreibungen, die jährlich von den Krankenkassen erfasst werden. Die Techniker Krankenkasse (TK) registrierte 2020 unter Softwareentwicklern und Programmierern im Durchschnitt 1,82 Fehltage, im Vorjahr waren es 1,8, 2018 1,61. "Auch Beschäftigte aus der IT-Branche werden zunehmend aufgrund von psychischen Problemen krankgeschrieben", sagt Sabine König, die als Präventionsexpertin für die TK Unternehmen berät. Allerdings lägen sie im Vergleich unter dem Bundesdurchschnitt.
Die Zahlen lassen aber keinen Rückschluss auf die Gesamtsituation in der IT-Branche zu. Noch nicht jedenfalls. Wie sich die Pandemie auswirke, werde man vermutlich erst in den kommenden Jahren sehen, sagt König.
Burnout nicht einfach festzustellen
Emotional und körperlich entkräftet und überfordert zu sein - das verbinden viele mit dem Begriff Burnout. Als offizielle Krankheit anerkannt ist Burnout aber nicht. Eine Definition sowie Diagnoserichtlinien fehlen. Mal kann sich hinter der Bezeichnung eine mittelschwere Depression oder eine Angststörung verbergen, wie in Striemers Fall, mal eine leichtere Erschöpfung.
Markus Moser kennt solche Fälle. Der Psychokardiologe und Präventivmediziner behandelt Patienten mit Burnout. Leicht festzustellen sei das nicht. "Betroffene leiden oft unter sehr unspezifischen Symptomen: Herzrasen, Kopfschmerzen, einem Reizdarm, Schlaf- oder Konzentrationsstörungen", zählt Moser auf. Bis da die eigentliche Ursache gefunden sei, dauere es.
Die Reaktionen seiner Patienten auf die Diagnose Burnout fielen sehr unterschiedlich aus. Einige hätten schon etwas geahnt. Andere reagierten geschockt, manche sogar gereizt und abwehrend. Je nachdem, wie schwer die Erkrankung ist, werden die Betroffenen anschließend ambulant oder stationär behandelt. "Die halbe Therapie ist erst einmal, alle Themen auf den Tisch zu bringen", erklärt Moser.
Karin Probst arbeitet seit mehr als 20 Jahren in der Burnout-Beratung. ITler, sagt sie, seien besonders gefährdet. "Das sind Troubleshooter." Sie müssten oft sofort und dann auch noch superschnell agieren, wenn es ein Problem gibt. "Ist das dann gelöst, wird häufig das Dankeschön vergessen", sagt sie. Gleichzeitig kommunizierten sie wenig. "Das sind oft eher introvertiertere Leute, die schon mal die ganze Nacht durchcoden, um eine Abgabefrist einzuhalten", sagt sie.
Das kann lange gutgehen. "Aber irgendwann machen sich der mangelnde Ausgleich und der Raubbau am eigenen Körper bemerkbar", warnt Probst. Gerade wenn beruflich Dringendes immer priorisiert und dafür persönlich Wichtiges aufgeschoben werde. Werden Probleme ignoriert oder verschwiegen, wird es besonders gefährlich.
Stattdessen versuchen einige, sich noch weiter zu pushen. Mit Zucker, Kaffee und Medikamenten. Ein Klient von ihr, erzählt Probst, habe Schweißausbrüche gehabt und unbemerkt auf dem Firmenparkplatz seine Anzüge gewechselt. "Aber je länger man so etwas verschleppt", warnt sie, "desto länger dauert es am Ende auch, wieder zu gesunden."
"Was stimmt nicht mehr?"
Situationen wie die auf dem Parkplatz kennt Rüdiger Striemer. Vor seinem Zusammenbruch verantwortete er ein wichtiges Akquiseprojekt, einen Großauftrag bei einem Industrieunternehmen. Damals ging es um Millionen, Striemers Projektteam war groß. "Das war ein wahnsinnig zäher Einkaufsprozess, mit vielen Wettbewerbern", erinnert er sich. Es erforderte seine volle Aufmerksamkeit - Aufmerksamkeit, die er zusätzlich zu seinen eigentlichen Aufgaben aufwenden musste.
Und die sammelten sich auf seinem Schreibtisch. "Irgendwann waren es so viele, dass ich keine Zeit mehr hatte, mich in alle Projekte und Probleme richtig einzulesen", sagt er. In dieser Zeit wurde ihm öfter schwindelig. Seine Kolleginnen und Kollegen bemerkten nichts. "Wenn mir in Meetings schwindelig wurde, habe ich einfach vorgeschlagen, eine Pause zu machen." Dann eilte er raus, schnappte nach Luft, überstand den Termin, irgendwie. Abends zermarterte er sich den Kopf: "Was ist eigentlich mit mir los? Was stimmt nicht mehr?" Fragen, auf die er damals keine Antwort wusste.
Zwischen Beanspruchung und Belastung
Das ist nicht verwunderlich. Denn insbesondere bei Männern gilt der Burnout als unterdiagnostiziert, wird ausgebrannt und erschöpft sein doch eher Frauen zugeschrieben. Berichten Männer von Schlafstörungen, Herzerkrankungen oder Magenproblemen, wird möglicherweise nicht immer die eigentliche Ursache festgestellt. Darauf deutet eine Studie der Deutschen Gesellschaft für Mann und Gesundheit (DGMG) hin. "Andererseits kann es auch mit einer gestiegenen Sensibilität zusammenhängen, dass psychische Probleme durch Stress am Arbeitsplatz häufiger diagnostiziert werden", sagt Patricia Tegtmeier von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA).
Dabei ist, belastet zu werden, erst einmal nichts Schlechtes, im Gegenteil. Wer eine Herausforderung meistert, fühlt sich danach oft gut. Allerdings nicht, wenn dies zu permanentem Stress führt und die eigenen Ressourcen auf Dauer übersteigt, wie etwa durch einen hohen Termin- und Leistungsdruck, viele Störungen oder detaillierte Arbeitsanweisungen.
Rüdiger Striemer wusste erst nicht, was mit ihm los ist. In der Klinik wurden dann eine Panikstörung und eine Depression diagnostiziert. (Bild: privat)
Belastungsfaktoren wie diese erfasst die BAuA jedes Jahr in ihrem Stressreport. Demnach wird die Informations- und Kommunikationsbranche überdurchschnittlich oft mit neuen Aufgaben oder betrieblichen Umstrukturierungen konfrontiert und muss zuvor Unbekanntes lernen. "In der Pandemie kam noch hinzu, dass viele Führungskräfte vielleicht auch nicht gesehen haben, wie belastet ihre Mitarbeitenden waren", ergänzt Tegtmeier. Neue digitale Kommunikationskanäle hätten viele noch mehr gefordert.
Das Problem: Wer sich dann erschöpft fühlt und trotzdem arbeitet, ist weniger produktiv. Das kostet Unternehmen viel Geld. Einen Einblick gibt hier SAP. Jedes Jahr veröffentlicht der Software-Konzern einen betrieblichen Gesundheitskultur-Index (englisch: Business Health Culture Index, BHCI).
Das Unternehmen gibt an, dass ein Prozentpunkt das Betriebsergebnis um etwa 100 Millionen Euro verändert. "Gesunde Mitarbeitende sind nicht nur Nice-to-have, sondern ein relevanter Business Case", betont Torsten Paul, Betriebsarzt und Direktor des Unternehmensbereichs Digital Health & Well-Being bei SAP. Das schließe auch die mentale Gesundheit ein.
Einige Beispiele, was SAP konkret macht: Der Software-Konzern beschäftigt unter anderem zwei Psychiater und mehrere Psychologen, es gibt ein Chatprogramm sowie eine Hilfshotline, die von einem externen Dienstleister betreut wird und die Mitarbeitende sowie deren Angehörige bei psychischen Problemen kontaktieren können.
In Coronazeiten liefen diese Kanäle heiß: Den Walldorfer Konzern erreichten 20 bis 30 Prozent mehr Anfragen von Mitarbeitenden. Diese Daten wurden anonymisiert aggregiert, erklärt Paul. Man wisse daher, dass 2020 zwar mehr psychische Probleme gemeldet wurden, es sich dabei aber oft um leichtere Belastungen wie Stress handelte, etwa durch die Notbetreuung von Kindern.
Im Herbst 2020 startete SAP deshalb eine Initiative für psychische Gesundheit. Ziel von Are you ok? sei es unter anderem, psychische Probleme zu destigmatisieren. Das Angebot beinhaltet auch eine Ausbildung zum Ersthelfenden für psychische Gesundheit (englisch: Mental Health First Aid). Die Nachfrage sei groß. "Wir haben lange Wartelisten", sagt Paul. Im April 2021 bekamen alle Angestellten am firmeninternen sogenannten Gesundheitstag frei.
Zusätzliche Urlaubstage gab es auch bei Google. Wie viele Burnout-Fälle es bei den beiden Software-Konzernen seit Pandemiebeginn gab, darüber will aber keiner sprechen. "Wir haben dazu nichts mitzuteilen", lässt Google schriftlich verlauten.
Von ihren Angeboten versprechen sich die Firmen auch etwas
Ähnlich wie SAP bieten inzwischen viele Unternehmen ihren Mitarbeitenden Seminare zum Stressmanagement an, es gibt Vorträge zu Achtsamkeit und Resilienz oder gemeinsame Meditationskurse. Nicht ohne Grund.
ITler sind begehrt, da hofft man, im Wettbewerb mit so einem Angebot zu punkten. Und: "Die Performance- und die Caring-Komponente gehen natürlich miteinander einher", sagt Heike Baur-Wagner, systemische Beraterin beim Trainingsunternehmen Awaris. Heißt: Von den Seminaren versprechen sich Unternehmen resilientere und damit auch leistungsfähigere Mitarbeitende, die sich seltener und kürzer krankmelden.
Solche Angebote sieht Patricia Tegtmeier von der BAuA kritisch. Die Wirkweite einzelner Seminare sei gering. "Mit einem Kurs erreiche ich vielleicht zehn Mitarbeitende", sagt sie. Schlimmstenfalls hetze jemand zum Meditationsworkshop, für den er eigentlich gar keine Zeit hat, und fühle sich dann auch noch schlecht. Problemlösungen werden so nur auf einzelne Arbeitnehmer verlagert.
Meditation und Atemtechniken zu lernen, helfe zwar, Stress zu reduzieren. Tegtmeier appelliert aber, den psychischen Arbeitsschutz wesentlich höher ansetzen - etwa mit Regeln, die für alle Mitarbeitenden greifen. Zum Beispiel, bis wie viel Uhr noch konferiert wird oder Mails bearbeitet werden sollen.
So etwas gibt es bei dem Walldorfer Software-Konzern nicht. "Starre Regeln oder technische Lösungen wollen wir nicht", heißt es dazu seitens SAP. Man appelliere an die Eigenverantwortung der Mitarbeitenden.
Noch gibt es zwar nur wenige verbindliche Regeln. Aber seit 2013 ist immerhin juristisch verankert, dass Arbeitgeber Arbeitsplatz und Tätigkeit auf ihre psychische Belastung hin prüfen müssen. Das schreibt Paragraph 5 des Arbeitsschutzgesetzes vor. Allerdings hapert es an der Umsetzung und den Kontrollen des Gesetzes. Und gerade im Homeoffice müssen Mitarbeitende selbst entscheiden, wann es genug ist, wann es Zeit ist aufzuhören.
Aufgehört hat irgendwann auch Rüdiger Striemer, als er nämlich in die Klinik ging. "Plötzlich von 100 auf 0 runterzufahren", das war Striemers eindrücklichste Erfahrung in den ersten Tagen seines Klinikaufenthaltes. Dort redete er erstmals auch über viel bis dahin Ungesagtes und Unverarbeitetes. Seine Mutter starb, als er gerade einmal elf Jahre alt war. "Danach habe ich eigentlich nur noch funktioniert", sagt er. Gerade deshalb sei seine Karriere rückblickend vermutlich so geradlinig verlaufen: wissenschaftlicher Mitarbeiter, Doktorand, Vorstand, heute ist er Honorarprofessor.
"Ich war aber kein Workaholic", erklärt er. Was ihn damals belastete, waren eher die vielen Kontextwechsel. Das Rennen von einem Projekt zum anderen. Mit neuen Aufgaben, mit neuen Abgaben - und mit neuen Problemen.
Diese Branche ist nun einmal zu hundert Prozent projektgetrieben. Und Softwareentwicklungen sind eine Wundertüte", sagt Striemer. Letztlich gehe es um soziotechnische Systeme, die von Menschen gebaut werden. "Die können immer havarieren." Scheiterte deshalb ein Projekt oder verzögerte sich eine Entwicklung, habe er sich früher persönlich verantwortlich gefühlt, den Schaden zu minimieren.
Alle zwei Monate nimmt er sich raus
Nach zwei Monaten in der Klinik ging Striemer wieder zurück ins Unternehmen. Anfangs kam er nur für eine Stunde am Tag. Viele hätten zwar interessiert gefragt, wie es ihm gehe. Komisch reagierte aber keiner. "Davor hatte ich auch keine Sorge. Wir ITler sind logisch, wir sind rational. Wir wissen, das ist eine Krankheit, die jeden treffen kann, die behandelbar ist", erklärt er.
Später hat er seine Aufgaben reduziert und ab 2021 die Verantwortung für das Auslandsgeschäft des IT-Unternehmens übernommen - mit kurzen Auszeiten alle zwei Monate, um zu schauen, wie es ihm geht, womit er sich wohlfühlt und womit nicht. Seine "Checkpoints", so nennt er diese Momente. Zweimal hatte er seit seinem Klinikaufenthalt vor zehn Jahren wieder Symptome bekommen.
Striemer reagierte sofort. Wer einen Burnout hatte, rutscht schnell wieder in die alten Muster ab. Einmal nahm er sich deshalb Urlaub, einmal meldete er sich krank. Nach seinem Klinikaufenthalt schrieb er ein Buch. "Aber weniger, um mich selbst zu therapieren", sagt er. Sondern um seinen Klinikaufenthalt als einen ganz normalen Teil seines Lebens zu begreifen.
Leiden Sie selbst unter Burnout, Depressionen oder haben sogar Suizidgedanken oder suchen Hilfe als Angehöriger, finden Sie professionelle Unterstützung etwa bei der Telefonseelsorge unter den Rufnummern 0800/1110111 und 0800/1110222 oder im Internet. Weitere Informationen finden Sie über die Seiten der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.
veröffentlicht am 26. Juli 2021, aktualisiert am 29.4.2024
Bild: Golem.de