Recruiting: Alle Einstellungsprozesse sind fehlerhaft
(Bild: Pixabay / Montage: Golem.de)
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Ich habe die Übersicht verloren, wie viele Artikel über die Auswahl neuer Mitarbeiter ich in den vergangenen Jahren gelesen habe. Alle sind gleich aufgebaut. Zuerst wird der Einstellungsprozess als solcher für fehlerhaft erklärt. Dann werden die Einstellungspraktiken des Unternehmens XYZ beschrieben. In einer extrem gründlichen Analyse werden alle erdenklichen Wege aufgezeigt, wie solche Praktiken manipuliert werden oder zu schlechten Ergebnissen führen können. Und abschließend wird erklärt, es sollten für Einstellungen stattdessen lieber die Kriterien ABC zugrunde gelegt werden. Eine Woche später folgt woanders der nächste Essay, in dem die Methode ABC zerpflückt wird.
Ich habe mittlerweile fast jede mögliche Kombination von ABC und XYZ gelesen. Aus Spaß habe ich schon überlegt, sie alle zu sammeln.
Viele Leute haben sehr leidenschaftliche Ansichten darüber, wie man richtig und falsch Mitarbeiter einstellt. Ehrlich gesagt, habe ich das Interesse an den Meinungen und Anekdoten anderer verloren. So lange nicht jemand in einer gründlichen wissenschaftlichen Studie verschiedene Techniken für Vorstellungsgespräche untersucht, am besten randomisiert und doppelblind, hat es keinen Sinn, das Pferd noch weiter totzureiten. Alle Einstellungskriterien sind schlecht, und es gibt keine, die besser sind als die anderen. Bei allen gibt es Argumente dafür und dagegen, wie ich aus meinen Erfahrungen bei Intel und Sun und in den vergangenen Jahren bei Amazon, Google, Engineers Gate und ein paar eigenen Startups weiß.
Darauf achten, bei welchen Unternehmen ein Bewerber vorher gearbeitet hat
Pro
- Die Personalabteilungen großer Unternehmen stecken enorm viel Geld und Arbeitskraft in die Rekrutierung der talentiertesten Persönlichkeiten. Warum sollte man diese Investitionen und Expertise nicht für sein eigenes Unternehmen nutzen?
- Unternehmen sind üblicherweise aussagekräftiger für die technischen Fähigkeiten, die ein Softwareentwickler braucht.
- Von einem guten Unternehmen eingestellt zu werden, erfordert viel Arbeit und Intelligenz. Das können gute Voraussetzungen für Erfolg im Job sein.
Contra
- Die Unternehmen setzen auf fehlerhafte Einstellungsprozesse, daher sollte man sich darauf nicht verlassen.
- Das funktioniert nicht bei Bewerbern, die frisch von der Uni kommen.
- Es entsteht eine Endlosschleife, in der jemand, der einmal von Google abgelehnt wurde, nie wieder eine Chance bekommt.
Auf die Universität achten, die ein Bewerber besucht hat (für die USA relevant)
Pro
- Die Zulassungsbehörden von Eliteuniversitäten stecken enorm viel Geld und Arbeitskraft in die Rekrutierung der talentiertesten Persönlichkeiten. Warum sollte man diese Investitionen und Expertise nicht für sein eigenes Unternehmen nutzen?
- Gute Universitäten haben meistens gute Professoren, andere gute Studenten und anspruchsvolle Kurse, was wiederum auf den Bewerber abgefärbt haben dürfte.
- Auf einer Eliteuniversität aufgenommen zu werden, erfordert viel Arbeit und Intelligenz. Das können gute Voraussetzungen für Erfolg im Job sein.
Contra
- Es gibt an jeder Uni Idioten. Ja, sogar in Stanford.
- Zulassungsbehörden von Eliteuniversitäten bevorzugen auf unfaire Weise die reichen und gut vernetzten Bewerber. Indem man diese Praktiken belohnt, diskriminiert man arme, nicht gut vernetzte Menschen und Angehörige von Minderheiten.
- Die Fähigkeiten, die man für die Aufnahme in einer Eliteuniversität wie Stanford braucht, sind für den Joberfolg eines Softwareentwicklers nicht relevant.
- Ob du mit 17 ein guter Schüler warst, sagt nichts darüber aus, wer du mit 25 bist.
Nach Referenzen fragen
Pro
- Gibt Einblick in die tatsächlichen beruflichen Leistungen des Bewerbers.
Contra
- Bewerber geben nur diejenigen als Referenzen an, die positiv über sie sprechen werden.
- Manche geben dem Bewerber nur eine positive Referenz, um nicht von ihm verklagt zu werden.
- Bewerber, die gut netzwerken können, werden bevorzugt.
Selbst Referenzen recherchieren
Pro
- Man erhält ein ausgewogenes Bild der tatsächlichen beruflichen Leistungen des Bewerbers.
Contra
- Dieses Vorgehen wird als unlauter betrachtet.
- Es ist schwierig, genau die Personen zu finden, die akkurat Auskunft geben können.
- Bewerber, die gut netzwerken können, werden bevorzugt.
- Bewerber, die es in der Vergangenheit mit schlechten und cholerischen Managern zu tun hatten, werden benachteiligt.
Bewerber Projekte zur Probe zu Hause bearbeiten lassen
Pro
- Damit wird die tatsächliche Arbeit im Job simuliert.
- Der Bewerber steht nicht unter dem Stress des Vorstellungsgesprächs.
- Die tatsächliche Leistung des Bewerbers kann evaluiert werden.
Contra
- Es handelt sich im Prinzip um unbezahlte Arbeit und ist daher nicht gut angesehen.
- Es kostet viel Zeit. Bewerber mit Familien werden benachteiligt.
- Sehr einfach zu manipulieren: Bewerber können Freunde helfen lassen oder 30 Stunden mit einem Projekt verbringen, das nur zehn Stunden dauern sollte, um es besonders gut zu machen.
Bewerber Probe arbeiten lassen
Pro
- Der Bewerber arbeitet tatsächlich im Job.
- Man gewinnt einen Eindruck, wie die Zusammenarbeit mit ihm ist.
- Man gewinnt einen Eindruck von den Arbeitsergebnissen.
Contra
- Je nachdem, wo der Bewerber gerade angestellt ist, kann das illegal sein.
- Vom Bewerber wird erwartet, eine Woche Urlaub zu nehmen, um probezuarbeiten. Das kann böses Blut schaffen.
- Bewerber, für die sich mehrere Unternehmen interessieren, werden benachteiligt. Sie können sich schließlich höchstens in ein oder zwei Unternehmen das Probearbeiten leisten.
- Menschen mit Privatleben und Familie werden benachteiligt.
Fragen über vergangene Projekte stellen
Pro
- Wenn der Bewerber anspruchsvolle, wichtige Projekte umgesetzt hat, wird er vermutlich auch im eigenen Unternehmen erfolgreich sein.
- Erfolg bei der Umsetzung eines erfolgreichen Projekts kann auf Talent hindeuten.
Contra
- Jeder kann übertreiben.
- Wer bei einem "coolen Projekt" gearbeitet hat, war oft nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
- Der Erfolg eines Projekts ist oft auf den Projektmanager zurückzuführen, nicht auf den Entwickler.
- Die Bewertung ist sehr subjektiv. Kandidaten, die einen schlechten Tag haben, nicht sehr eloquent sind oder dem Stereoptyp eines idealen Entwicklers nicht entsprechen, werden benachteiligt.
Quellcode wichtiger Projekte einsehen
Pro
- Es handelt sich um ein konkretes Arbeitsergebnis, das guten Einblick in die Fähigkeiten des Bewerbers gibt.
Contra
- Die meisten Projekte sind vertraulich. Google wird kaum zustimmen, dass ein Entwickler seinen Quellcode vorzeigt.
- Nicht jeder hat die Zeit, an Open-Source-Projekten zu arbeiten. Kandidaten mit Familie werden benachteiligt.
- Nicht jeder hat Lust, in seiner Freizeit an Open-Source-Projekten zu arbeiten. Menschen mit vielfältigen Interessen werden benachteiligt.
Kandidatenwissen über Technik, Tools und Frameworks abfragen
Pro
- Wer sich mit Technik X auskennt, kann sie erfolgreich im Job einsetzen.
- Zeigt, dass der Kandidat interessiert genug ist, um sich die Mühe zu machen, solche Themen zu recherchieren.
Contra
- Tools und Techniken kann man lernen. Sie sind als Filter also ungeeignet.
- Grundlegende Fähigkeiten von Entwicklern haben nichts mit spezifischen Tools/Techniken zu tun und sind viel wichtiger als diese.
- Eine Person kann nicht alles wissen. Der Bewerber braucht eine Menge Glück, um genau über das befragt zu werden, mit dem er sich auskennt.
- Niemand will derjenige sein, der seine Mitarbeiter nur wegen des Brauns einstellt.
Denkaufgaben
Pro
- Testet die Intelligenz und Problemlösungskompetenz.
Contra
- Entweder weiß man die Antwort oder eben nicht. Kommt drauf an, ob man einen Geistesblitz hat oder die Frage schon einmal gehört hat.
- Sie haben nicht direkt etwas mit Programmieren zu tun.
- Sogar Google hält sie für nutzlos.
Programmierfähigkeiten live testen
Pro
- Man erhält live eine Demonstration der Programmierfähigkeiten, die obenstehenden Contra-Punkte gelten nicht.
- Dass Fizz Buzz so effektiv ist zeigt, dass mehr gründliche Live-Programmiertests nötig sind.
- Total fair und unparteiisch. Wer das Problem löst, erhält viele Punkte. Wer es nicht löst, wenige. So funktioniert die Leistungsgesellschaft.
Contra
- Für viele solcher Aufgaben gilt dasselbe wie für Denkaufgaben: Es hängt davon ab, ob jemand einen Geistesblitz hat.
- Sehr stressig. Viele Programmierer können nicht programmieren, wenn die Zeit läuft und jemand sie dabei beobachtet.
- Spiegelt nicht die Berufspraxis wider. Die Aufgaben sind unecht und konstruiert.
- Kommt nicht gut an.
- "90 Prozent unserer Ingenieure nutzen die von Ihnen geschriebene Software, aber wenn Sie keinen Binärbaum am Whiteboard umwandeln können, können wir Sie nicht gebrauchen!"
Pair Programming bei einem realen Problem
Pro
- Es wird an einem realen Problem gearbeitet, das die täglichen Anforderungen widerspiegelt.
- Es gibt keine bekannte richtige Antwort, sie wird gemeinsam gefunden.
Contra
- Entwickler brauchen Wochen, um sich in die bestehende Codebasis einzuarbeiten, Sachkunde zu erwerben und den Technik-Stack zu kennen. Man kann von niemandem erwarten, mal einen Nachmittag vorbeizuschauen und tatsächlich etwas voranzubringen.
- Sehr variabel. Je nachdem, an welchem Tag sie kommen, bekommen Bewerber sehr einfache Aufgaben und arbeiten mit Sprachen/Bereichen/Technologien, mit denen sie sich auskennen - oder eben nicht.
- Das Potenzial eines Bewerbers lässt sich nur abschätzen, wenn eine Aufgabe ihn an seine Grenzen bringt - sogar, wenn sie nicht realistisch ist. Nicht ohne Grund werden Intel-CPUs mit synthetischen Benchmarks und nicht mit MS Word getestet.
- Wer es schafft, jedem Bewerber dieselbe "reale Aufgabe" zu stellen, die anspruchsvoll ist, aber nicht unmöglich, in einer Sandbox-Umgebung und ohne dass konkretes Spezialwissen vorausgesetzt wird, und das bei flexibler Wahl der Sprache und der Technologie, verdient Glückwünsche: Er hat die Live-Programmierübungen neu erfunden.
Und nun?
Gute Frage. Als ich bei Google gearbeitet habe, haben wir uns bei Einstellungsgesprächen komplett auf Live-Programmierübungen verlassen, wobei das HR-Team auch den Lebenslauf berücksichtigt hat. Google hat kürzlich begonnen, auch einige Verhaltensfragen zu stellen, aber der Prozess steht noch ganz am Anfang.
Ich denke, es gibt keine Lösung, die für alle Bewerber funktioniert. Verschiedene Menschen demonstrieren ihre Expertise auf verschiedene Weise. Manche sind gut in Live-Programmierübungen, andere haben gute Arbeitsproben, wieder andere können ausgezeichnete Referenzen von bekannten und vertrauenswürdigen Leuten vorweisen. Unternehmen sollten flexibler sein und die Kandidaten entscheiden lassen, wie sie ihre Fähigkeiten am besten unter Beweis stellen können.
Das ist natürlich nur meine persönliche Meinung und mir ist klar, dass die Umsetzung sehr schwierig sein kann. Die Branche wird in den kommenden Jahrzehnten sicherlich dazulernen und daran wachsen.
Der Artikel erschien zuerst auf Englisch im Blog von Rajiv Prabhakar.