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Krankengeld-Debatte: Droht das Ende der vollen Lohnfortzahlung in Deutschland?
Der Krankenstand in Deutschland erreicht neue Höchststände, während Experten eine Reduzierung der Lohnfortzahlung von 100 auf 80 Prozent diskutieren. Das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) schlägt alternative Lösungen wie Teilzeitkrankschreibungen vor.
Die steigende Zahl der Krankheitstage in deutschen Unternehmen führt zu einer intensiven Debatte über die Zukunft der Lohnfortzahlung. Mit durchschnittlich 19,4 Krankheitstagen pro Versichertem im Jahr 2023 und einem weiteren Anstieg 2024 steht Deutschland vor einer bedeutenden Herausforderung. Während das Land mit seiner hundertprozentigen Lohnfortzahlung ab dem ersten Krankheitstag international eine Sonderstellung einnimmt, mehren sich die Stimmen (Paywall) für eine Reform. Experten diskutieren verschiedene Ansätze - von einer Reduzierung der Lohnfortzahlung auf 80 Prozent bis hin zu flexibleren Modellen wie Teilzeitkrankschreibungen.
Ursachen und wirtschaftlicher Kontext der Fehlzeiten
Die jüngsten Erhebungen, wie sie das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) im Oktober 2024 veröffentlichte, zeigen einen auffälligen Anstieg der Fehlzeiten seit 2022. Während die Techniker Krankenkasse (TK) im Jahr 2023 im Durchschnitt 19,4 Krankheitstage je Versichertem verzeichnete, stiegen die Fehltage in der ersten Jahreshälfte 2024 bereits auf 9,6 Tage. Auch andere Kassen melden eine ähnliche Entwicklung: Die AOK verzeichnete beispielsweise im August 2023 einen neuen Höchststand von 225 Arbeitsunfähigkeitsfällen je 100 Erwerbstätige.
Laut ZEW sind vier Faktoren maßgeblich für diesen Anstieg verantwortlich: die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung, eine veränderte Wahrnehmung und Sensibilität für Krankheitssymptome, die Pandemie und ihre Nachwirkungen (insbesondere Long Covid) sowie eine bessere Datenerfassung durch die Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU). Diese elektronische Erfassung, seit Januar 2022 in Kraft, ermöglicht eine umfassendere, präzisere Erfassung auch kürzerer Fehlzeiten, was sich auf die Statistik ausgewirkt haben könnte.
Ein riskanter Weg: die mögliche Absenkung der Lohnfortzahlung
Ein besonders kontrovers diskutierter Vorschlag ist die Senkung der Lohnfortzahlung von 100 auf 80 Prozent, wie sie auch von der Welt (Paywall) aufgegriffen wurde. Eine solche Absenkung könnte zwar kurzfristig Fehlzeiten verringern, birgt jedoch langfristige Risiken. Die vergangene Reform unter Helmut Kohl, die 1996 eine Reduktion der Lohnfortzahlung einführte, brachte zwar eine Reduktion der Krankmeldungen, stieß aber auf heftigen Widerstand, was sich in Massenprotesten und Streiks äußerte. Zwei Jahre später wurde die Maßnahme von der Regierung Schröder wieder rückgängig gemacht – ein deutliches Signal, dass die Bevölkerung solche Einschnitte nicht akzeptieren wollte.
Darüber hinaus könnte eine Absenkung die Präsentismus-Quote erhöhen, da Arbeitnehmer aus finanziellen Gründen eher krank zur Arbeit gehen könnten. Dies würde das Risiko von Ansteckungen am Arbeitsplatz steigern und somit einen gegenteiligen Effekt auf die allgemeine Gesundheit der Belegschaft haben.
Forscher schlagen Flexibilisierung vor
Um Fehlzeiten zu senken, ohne den sozialen Schutz der Arbeitnehmer aufzugeben, schlägt das ZEW eine Flexibilisierung der Lohnfortzahlung vor. Dazu gehören insbesondere die Einführung von Teilzeitkrankschreibungen und die Beibehaltung der telefonischen Krankschreibung. Teilzeitkrankschreibungen könnten es Arbeitnehmern ermöglichen, bei leichten Erkrankungen in begrenztem Umfang weiterzuarbeiten – eine sinnvolle Lösung, um das vollständige Fehlen zu verringern und gleichzeitig gesundheitliche Risiken zu minimieren. Bei leichteren Symptomen könnte das Arbeiten im Homeoffice eine Alternative sein, die sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer entlastet.
Die Beibehaltung der telefonischen Krankschreibung ist ebenfalls ein Schritt, der aus gesundheitlicher und wirtschaftlicher Sicht sinnvoll erscheint. Diese Praxis, eingeführt während der Pandemie, hat die Belastung der Arztpraxen reduziert und hilft, das Risiko von Ansteckungen in überfüllten Wartezimmern zu minimieren. Laut den Forschern des ZEW überwiegen die Vorteile dieser Maßnahme die Risiken potenziellen Missbrauchs deutlich.
Anwesenheitsprämien und Kontrollen durch den Medizinischen Dienst
Ein weiterer Vorschlag umfasst Anwesenheitsprämien für Mitarbeiter, die Fehlzeiten niedrig halten. Diese Prämien könnten einen zusätzlichen Anreiz schaffen, bei leichten Beschwerden auf eine Krankmeldung zu verzichten. Doch hier besteht auch das Risiko, dass sich Beschäftigte selbst unter Druck setzen, was im schlimmsten Fall zu einer stärkeren Verbreitung von Infektionen am Arbeitsplatz führen könnte.
Zusätzlich könnte eine verstärkte Einbindung des Medizinischen Dienstes dabei helfen, Missbrauchsfälle zu reduzieren, jedoch würde dies die Arbeitnehmer auch stärker überwachen und könnte eine Atmosphäre des Misstrauens schaffen. Besonders bei gerechtfertigten Erkrankungen sollten Maßnahmen zur Fehlzeitenreduktion verantwortungsvoll und angemessen umgesetzt werden, um Arbeitsbelastungen und gesundheitliche Risiken nicht zu steigern.
Lohnfortzahlung unter Druck
Deutschland hat weltweit eine der großzügigsten Lohnfortzahlungsregelungen. Vom ersten Krankheitstag an erhalten Arbeitnehmer bis zu sechs Wochen lang ihren vollen Lohn – ein sozialer Schutz, der in kaum einem anderen Land in dieser Form existiert. Schweden beispielsweise setzt auf einen Karenztag ohne Bezahlung und eine Lohnfortzahlung von 80 Prozent für maximal zwei Wochen. Solche länderspezifischen Unterschiede könnten erklären, warum Fehlzeiten in Deutschland im Vergleich deutlich höher liegen.
Die großzügige Lohnfortzahlung ist ein historisches Privileg, das in Deutschland fest verankert ist, aber auch untergraben wird. Die IG Metall, die das Lohnfortzahlungsgesetz 1956 für die Metallindustrie erkämpfte, beobachtet die aktuelle Diskussion um potenzielle Kürzungen mit Skepsis. Fabian Ferber, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Märkischer Kreis, berichtet von zunehmenden Fällen, in denen Arbeitgeber versuchen, die Lohnfortzahlung zu unterlaufen – teilweise durch die Forderung, dass Arbeitnehmer ihre ärztliche Schweigepflicht aufheben oder Diagnosen offenlegen. In einem Fall wurde einem Beschäftigten die Lohnfortzahlung verweigert, da ihm unterstellt wurde, wegen einer Versetzung blauzumachen, obwohl der Beschäftigte schon Wochen in der neuen Position tätig war.
Die Gewerkschaft sieht darin einen klaren Missbrauch der Regelungen und fordert politischen Handlungsbedarf, um die Lohnfortzahlung gesetzlich abzusichern und Missbrauch zu sanktionieren. Solche konkreten Fälle zeigen, wie wichtig das Thema nicht nur für das Wohl der Arbeitnehmer, sondern auch als gesellschaftliche Errungenschaft ist, die nicht leichtfertig aufgegeben werden sollte.
Ein Balanceakt zwischen Sozialschutz und Wirtschaftlichkeit
Die Vorschläge des ZEW zur Flexibilisierung der Lohnfortzahlung bieten pragmatische und wirtschaftlich orientierte Ansätze zur Senkung der Fehlzeiten. Teilzeitkrankschreibungen und die Beibehaltung der telefonischen Krankschreibung könnten die Belastungen für Unternehmen verringern, ohne den sozialen Schutz der Arbeitnehmer zu gefährden. Doch jede Maßnahme muss sorgfältig abgewogen werden, um negative Effekte wie sozialen Druck, gesundheitliche Risiken oder einen Rückschritt bei den Arbeitnehmerrechten zu vermeiden.
Die Lohnfortzahlung ist nicht nur eine wirtschaftliche Regelung, sondern eine soziale Errungenschaft, die Deutschland als eines der wenigen Länder so großzügig gestaltet hat. Ein Verlust dieses Privilegs könnte von der Gesellschaft als Rückschritt empfunden werden – und das könnte nicht nur Arbeitnehmer, sondern das gesellschaftliche Klima in Deutschland nachhaltig beeinflussen.
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