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Tech-Entlassungswelle: Was diesmal anders ist
Die Tech-Industrie wird seit einem Jahr heimgesucht von einer beispiellosen Kündigungswelle. Massenentlassungen sind in der Branche nichts Neues, doch gibt es diesmal entscheidende Vorteile für gekündigte IT-Professionals.
Die seit 2022 anhaltende Kündigungswelle in der Tech-Industrie hat im Frühjahr Fahrt aufgenommen: Allein im ersten Quartal dieses Jahres wurden mehr als 150.000 Arbeitnehmer entlassen, 50.000 davon alleine von Big Tech — Meta, Alphabet, Amazon und Microsoft. Im gesamten Vorjahr waren es knapp 160.000.
Bei der weltweit höchsten Konzentration an Tech-Firmen ist es nicht verwunderlich, dass IT-Fachkräfte in den Vereinigten Staaten mit ungefähr 68 Prozent weltweit am stärksten betroffen waren. In Deutschland traf es seit Beginn der Welle fast 8.000 Angestellte über 58 Unternehmen hinweg, wobei beim Softwarekonzern SAP im Zuge seiner Restrukturierungspläne mit 3.000 betroffenen Stellen die meisten Arbeitsplätze wegfallen.
Die größte Gruppe der Betroffenen waren laut einer Studie dabei interessanterweise nicht Softwareentwickler (22 Prozent), sondern mit knapp 28 Prozent HR und Talentbeschaffung. Im Kontext der Massenentlassungen und Einstellungsstopps ergeben diese Werte Sinn — Rekrutierungsteams werden weniger gebraucht und eventuell durch Automatisierung ersetzt. Der Rest verteilt sich auf Marketing (7,1 Prozent), Customer Success (4,6), PR (4,4) und andere (22).
Die Ursache für die anhaltende Entlassungswelle
Während der Pandemie verfiel die Industrie einem regelrechten Einstellungsrausch, um die schlagartig angestiegene Nachfrage nach Homeoffice und Onlinehandel zu bedienen. Zwei Jahre später sieht sich die Technologiebranche jedoch mit schwachen Prognosen und rückläufigen Umsätzen konfrontiert, die sie zu breitflächigen Einsparungen zwingen. Eine klassische Methode dabei: Personalrückbau.
Dabei ist gar nicht belegt, dass Personalabsetzungen eine rational-wirtschaftliche Option sind, die den Unternehmen zu gewünschten Ergebnissen verhilft. Eher das Gegenteil ist der Fall: Jeffrey Pfeffer, Professor an der Stanford Graduate School of Business, zeigt auf, dass es sich hier eher um “Social Contagion” (Soziale Ansteckung) handelt: Ein Unternehmen macht den Anfang und der Rest zieht nach.
Laut Anne Lowrey (The Atlantic) geht es dabei nicht unbedingt um die unternehmenswirtschaftlich nötige Reduzierung von Arbeitnehmern. Das Management sehe bei solchen Dynamiken auch eine Möglichkeit, die eigene Besatzung in Hinblick auf eine potenzielle Rezession zu reduzieren, ohne dabei mediale Auseinandersetzungen oder, schlimmer, Imageschäden zu riskieren.
Der Fall gegen Entlassungen
Entlassungen als Kosteneinsparungsmethode sind laut Jeffrey Pfeffer generell ineffektiv. Zum einen würden entlassene Mitarbeiter oft als Auftragnehmer zurückgeholt und somit mehr kosten als vorher. Zum anderen seien sie kein gutes Zeichen für Investoren und könnten sich negativ auf den Aktienkurs auswirken.
Weiterhin stärken Entlassungen Pfeffer zufolge nicht die Produktivität eines Unternehmens und lösen keine Probleme, deren Ursprünge meist gar nicht bei den Arbeitnehmern liegen. Laut dem Stanford-Professor kündigten Unternehmen sogar kürzlich angestellte Mitarbeiter, trotz bezahlter Einstellungsprämien, und konkurrieren dann, sobald sich die Wirtschaft erholt, erneut mit anderen Unternehmen um dieselben Talente.
Für marginalisierte Gruppen sind Kündigungen potenziell verheerend. Nicht-US-Staatsangehörige sind den Einwanderungssystemen ausgeliefert und von Abschiebung bedroht, wenn sie nicht innerhalb einer vorgegebenen Zeit einen neuen Job finden. Frauen müssen sich nicht nur mit Gehaltsgefälle und erschwerten Einstiegs- und Aufstiegschancen abfinden, sondern auch mit einem erhöhten Kündigungsrisiko: Von November bis Januar konnte ermittelt werden, dass 56 Prozent der Betroffenen Frauen sind — obwohl gerade einmal ein Drittel der Beschäftigten in der Tech-Branche weiblich sind.
Trotz Herausforderungen: Mehr Chancen für Tech-Spezialisten denn je
Die anhaltende Entlassungswelle steht trotz der Herausforderungen für die Betroffenen in einem anderen Kontext: IT-Fachkräfte sind weiterhin stark gefragt und zwar auch außerhalb klassischer IT-Branchen. Wie Matt McLarty, Leiter der Technologieabteilung für den globalen Bereich bei Mulesoft, gegenüber CNBC erklärt, erkennen Nicht-IT-Industrien die Entwicklung als Chance, Tech-Experten abzugreifen, um ihre IT-Infrastruktur zu aktualisieren oder lange hinausgeschobene Projekte anzugehen.
Dazu gehören faktisch alle anderen Sektoren wie Energie und Klima, das Gesundheitswesen und die Finanzbranche, ebenso wie das Schulsystem, der Einzelhandel und die Landwirtschaft. Die allgemeine Technologisierung erfordert mehr Tech-Spezialisten als jemals zuvor.
Dieser Umstand ist auch der Grund, warum Betroffene zeitnah wieder Arbeit aufnehmen konnten. In den Vereinigten Staaten, wo mehr Menschen als woanders sich auf die Suche nach einer neuen Beschäftigung machen mussten, fanden 37 Prozent eine neue Stelle innerhalb eines Monates und 79 Prozent innerhalb drei Monate. Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit für Tech-Arbeiter beträgt damit 8,1 Wochen.
Laut Julia Pollack, Chefökonomin beim Online-Arbeitsmarkt Ziprecruiter, wäre es Nicht-Tech-Branchen unmöglich gewesen, IT-Professionals einzustellen, hätte Big Tech sein rasantes Wachstumstempo von 2020 bis 2021 beibehalten und damit das Monopol auf die Spezialisten übernommen. Andere Branchen hätten somit jetzt eine Chance.
Trotzdem ist es immer noch aussichtsreich, in der Tech-Branche zu arbeiten, denn der Arbeitsmarkt bleibt robust: Allein in den USA gibt es mehr offene Stellen (geschätzt 375.000) in der Branche als Menschen, die sie besetzen können. Der Fachkräftemangel in Deutschland ist in Relation noch drastischer: hier sind 137.000 IT-Stellen unbesetzt.
Eine weitere Konsequenz der Entlassungswelle, die optimistisch stimmt, ist die Freisetzung von kreativem Potenzial. Mit vorteilhaften Abfindungen und Zeit ausgestattet, ergibt sich für Tech-Professionals die Möglichkeit, ihre eigenen Business-Ideen umzusetzen — trotz der derzeit etwas gedämpften Investitionsstimmung.
Bild: Andrea Piacquadio / Pexels
aktualisiert am 29.4.2024