Recruiting: Wenn das eigene Wachstum zur Herausforderung wird
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Von Robert Meyer veröffentlicht am
Gerade im IT-Bereich können Unternehmen sehr schnell wachsen. Dabei können der Fachkräftemangel und das schnelle Onboarding von neuen Mitarbeitern zum Problem werden. Wir haben uns bei kleinen Startups und Großkonzernen umgehört, wie sie in so einer Situation mit den Herausforderungen umgehen.
Eigentlich sind die Büros schon wieder zu klein. Erst vor zwei Jahren ist das Startup Talentry in diese Büroräume in der Münchner Innenstadt umgezogen. Altbau mit Startup-Feeling - hohe Decken, dunkelgrau gestrichene Wände, knarzender Holzboden. Gegenüber vom Eingang steht eine der roten Telefonzellen aus Großbritannien, die man fast nur noch aus Filmen kennt.
Knapp 50 Mitarbeiter arbeiten derzeit bei der Recruitment-Plattform, in diesem Jahr kommen 20 neue hinzu. Ein schnelles Wachstum für einen Betrieb, den es erst seit sechs Jahren gibt. Gerade Startups wachsen oft extrem schnell. So schnell, dass es dem Unternehmen über den Kopf wachsen kann - vor allem, wenn nicht genügend qualifizierte Mitarbeiter auf dem Markt sind. Wie geht man als IT-Unternehmen mit solchen Problemen um?
Keine Kompromisse machen
Die Situation auf dem Arbeitsmarkt sei die größte Herausforderung für zügig expandierende Firmen in dieser Branche, sagt Martina van Hettinga. Sie ist Managing Partner bei den Personalberatern von i-potentials und steht stark wachsenden Digitalunternehmen mit ihrem Rat zur Seite. Alle Unternehmen suchten die gleichen Profile bei Bewerbern - und wegen der Digitalisierung der gesamten Wirtschaft kämpften nicht nur IT-Firmen um die wenigen Spezialisten auf dem Markt, sondern auch Mittelständler aus anderen Branchen, berichtet die Beraterin.
Muss man als schnell wachsendes Unternehmen also Kompromisse machen - Hauptsache, die offenen Stellen werden besetzt? Vor dieser Frage stand auch das Talentry-Team, als es neue Mitarbeiter suchte und im weitestgehend leergefegten deutschen Arbeitsmarkt nicht fündig wurde. Es richtete den Blick ins Ausland und fand einen potenziellen Bewerber in Serbien. Das Problem: Er konnte kein Deutsch - die Firmensprache. Nun musste sich Talentry entscheiden: auf den gut qualifizierten Bewerber verzichten oder sich als Startup selbst anpassen?
Carl Hoffmann und sein Team von Talentry wollten den Mitarbeiter und entschieden sich für Englisch als Firmensprache. Was die technischen Fähigkeiten angehe, sei Talentry ziemlich "picky", sagt Hoffmann. Wenn es aber beispielsweise um die Sprache gehe, könne man durchaus Kompromisse machen. Das rät auch Beraterin Martina van Hettinga. Abstriche bei der Suche nach Bewerbern dürfe man nur machen, "was Erfahrung und erlernbare Skills angeht".
Vor allem müssten die Bewerber die Firmenkultur teilen, gemeinsame Werte wie proaktives Arbeiten, Selbstreflexion oder Transparenz, sagt Hoffmann. Ansonsten könne es zu Konflikten kommen. Man dürfe nicht einen Mitarbeiter holen, "dafür aber drei verlieren". Herausfinden könne man das bereits beim Bewerbungsgespräch. Einerseits teste man bei Talentry die technischen Fähigkeiten der Bewerber, andererseits müssten Jobkandidaten beim Bewerbungsgespräch das Team kennenlernen. So merke man schnell, ob die Person in die Firmenkultur passe.
Gleichzeitig ist es entscheidend, für die möglichen Bewerber attraktiv zu sein. Deshalb müsse man ihnen gerade bei schnellem Wachstum mehr bieten als einfach nur einen Arbeitsplatz, sagt Martina van Hettinga. Kostenloses Obst oder ein Tischkicker für die Mittagspause seien kein Wettbewerbsvorteil mehr, sagt die Beraterin.
Entscheidend sei für junge Talente eine passende Unternehmensvision, sagt van Hettinga. Was bewege ich mit meiner Arbeit? Diese "Purpose" müsse möglichst konkret und sinnstiftend sein. Sätze wie "Wir wollen das nächste Unicorn werden" begeisterten heutzutage nur noch die wenigsten Bewerber.
Recruiting ist Chefsache
Doch wo findet man passende Bewerber überhaupt? Für Martina van Hettinga kommt es vor allem darauf an, Recruiting zu einem zentralen Teil der Firmenstrategie und Zukunftsplanung zu machen. "Recruiting ist Chefsache", gerade bei Startups, sagt die Beraterin von i-potentials. Um neue Talente zu finden, müsse man aktiv und zielgruppengerecht vorgehen.
Wichtig sei es, aktiv nach Kandidaten zu suchen, viel Zeit zu investieren und auch das gesamte Team einzubeziehen. Bei Talentry seien Mitarbeiterempfehlungen ein wichtiges Recruiting-Instrument, sagt zum Beispiel Carl Hoffmann. So geht es auch größeren Firmen. Das Software-Unternehmen Valantic hat im vergangenen Jahr ein Drittel seiner neuen Mitarbeiter durch solche Empfehlungen gefunden.
Darüber hinaus könne man sich auch einen Talentpool aufbauen, aus dem man sich bedienen könne, so Beraterin Martina van Hettinga. Ein solches Konzept verfolgt zum Beispiel das Münchner IT-Startup Motius. Das Unternehmen besteht nicht nur aus den knapp 40 festen Mitarbeitern, sondern hat auch einen Pool mit ungefähr 800 Talenten - Freelancer, Studenten, Young Professionals und Doktoranden. Eigentlich ist dieser Pool dazu gedacht, für jedes zu entwickelnde Produkt schnell und flexibel ein passendes Team zusammenzustellen.
Doch dieser Pool ist zu einem wichtigen Recruitinginstrument für Motius geworden. Im vergangenen Jahr hat das Unternehmen laut eigenen Angaben 25 neue Mitarbeiter eingestellt - ein Großteil kam aus dem Pool. Mit diesen Fachkräften habe man schließlich schon zusammengearbeitet und wisse deshalb, dass sie zur Unternehmenskultur passen, sagt Motius-Mitgründer Sören Gunia. Ob dieses Konzept auch für andere Unternehmen geeignet ist, daran zweifelt Gunia: "Es kann funktionieren. Dafür muss es aber einen kulturellen Wandel geben." Die Talente bekämen durch das Pool-Konzept eine modernere und agilere Arbeitseinstellung, was zu vielen Firmen noch nicht passe.
Ansonsten funktioniert bei Motius ebenfalls einiges über Empfehlungen. Auch gehe man aktiv auf Fachkräfte zu und suche beispielsweise auf Plattformen wie Stack Overflow nach guten Entwicklern, sagt Sören Gunia. Zudem sei "Marketing gleichzeitig auch Bewerbermarketing". Die eigene Firma bei den Fachkräften bekannt zu machen, ist gerade für kleine und relativ unbekannte Startups wichtig. "Die Funktion eines Recruiters ändert sich komplett", sagt Beraterin Martina van Hettinga. Einfach nur Stellenanzeigen zu schalten und diese auf sozialen Medien zu verteilen, reiche einfach nicht mehr.
"Es ist sehr wichtig, persönlichen Kontakt herzustellen", sagt auch Lorena Maldonado von einem Unternehmen, das keine Probleme mehr mit der Bekanntheit haben dürfte. Nur ein paar Kilometer von Talentry und Motius entfernt, kurz hinter der Münchner Stadtgrenze in der Gemeinde Aschheim, hat der Finanzdienstleister Wirecard seinen Hauptsitz. Vorstandsmitglied Susanne Steidl erinnert sich im Interview noch gut, wie sie und das Team vor 13 Jahren in einem winzigen Raum saßen. Sie schaut durch den Konferenzraum, der nicht größer als eine Garage ist. "Höchstens zwei Drittel von diesem Raum", sagt Steidl und lacht. Seitdem hat sich viel getan. Im vergangenen Jahr wurde das Unternehmen in den Deutschen Aktienindex aufgenommen, weltweit arbeiten mittlerweile über 5.000 Menschen für Wirecard - im vergangenen Jahr sind über 500 neue Mitarbeiter dazugekommen.
Bei diesem Wachstum sei in den vergangenen Jahren vor allem die Kommunikation bei Wirecard zu einer immer größeren Herausforderung geworden, berichten die Mitarbeiter heute. Immer mehr Kollegen bedeuten nicht nur weniger Platz im Büro, sondern vor allem mehr Beteiligte am Projekt. "Es war nicht leicht, alle Teams auf demselben Stand zu halten", sagt Lorena Maldonado. Vor vier Jahren sei alles noch informeller gewesen. Damals habe man sich eben Face-to-Face abgesprochen - seit vergangenem Jahr wird bei Wirecard zum Beispiel viel über formellere Tools wie Slack geregelt.
Mitarbeiter schnell integrieren
In solch schnellen Wachstumsphasen ist es besonders herausfordernd, die neuen Kollegen schnell zu integrieren. Das betrifft zum einen das fachliche Wissen. So müsse zum Beispiel Wirecard den Neuankömmlingen oft erstmal beibringen, wie die Finanzdienstleistungen und die Branche überhaupt funktionieren, so CPO Susanne Steidl. Zum anderen ist es wichtig, dass sich die neuen Mitarbeiter schnell im Unternehmen orientieren können. Bei Wirecard ist das Aufgabe der einzelnen Teams, bei Talentry setzt man beispielsweise auf ein Mentorensystem. Jeder neue Angestellte bekommt einen "Buddy" zur Seite gestellt. Die helfen nicht nur dabei, sich im Unternehmen zurechtzufinden, sondern auch bei der Orientierung in der neuen Stadt.
Außerdem müsse man schnell die Kultur des Unternehmens vermitteln. "Je größer das Unternehmen, desto weniger hat man diese Kultur unter Kontrolle", sagt Carl Hoffmann von Talentry. Er empfiehlt deshalb, erfahrene Führungskräfte einzustellen und stets mit den Mitarbeitern über Veränderungen zu sprechen. Ähnlich sieht es Wirecard-CPO Susanne Steidl. "Gerade wenn man so schnell wächst, muss man immer miteinander reden" - Veränderungen müsse man mit den Mitarbeitern offen besprechen und sie so mitnehmen. Dieser "Cultural Fit" sei für Wirecard ein entscheidender Faktor. Man habe in der Vergangenheit bereits vom Kauf anderer Unternehmen abgesehen, weil die Unternehmenskulturen nicht zusammengepasst hätten, berichtet Steidl.
Wenn das eigene Unternehmen schnell wächst, kommen auf allen Ebenen Herausforderungen dazu. Dabei ist das Recruiting an sich nur ein Teilaspekt. Wie integriere ich die Mitarbeiter möglichst schnell? Wie halte ich meine Firmenkultur aufrecht? Wie vermeide ich organisatorisches Chaos? All diesen Fragen müssen sich kleine und große Unternehmen stellen, denn "diese Themen werden beim Recruiting nur selten bedacht", sagt Beraterin Martina van Hettinga.
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