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Branchenwechsel in der IT: Zu spezialisiert, um mal was anderes zu machen?
ITler müssen sich spezialisieren, weil sie Branchenwissen brauchen. Doch heißt das auch, dass sie ihr ganzes Arbeitsleben an eine Branche gebunden sind?
Sportler und Informatiker haben mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint. Beide brauchen zunächst die notwendigen Grundlagen für ihre Profession. Bei Sportlern sind es Wille, Disziplin und im Idealfall Talent. Informatiker müssen vor allem die reale Welt in eine digitale transferieren können, was ein hohes Maß an Abstraktionsvermögen voraussetzt - bestenfalls kommt auch bei ihnen Begabung dazu.
Vor einem Jahr hat der 44-Jährige den Arbeitgeber und gleich auch die Branche gewechselt. Er ist nun Head of Vehicle and Cloud Platform bei Cariad, der Softwaretochter des VW-Konzerns mit rund 4.500 Mitarbeitern.
Wissen über die neue Branche aneignen
Das ist im Auto Standard, etwa bei allen Assistenzsystemen. Wie Embedded-Software funktioniert, hat er in der Theorie im Studium der Elektrotechnik gelernt und wendet dieses Wissen nun in der Praxis an. Er ist in seiner Funktion zwar ein hoher Manager, bestimmt in dieser aber auch die Software-Architekturen.
Wirklich neu ist für Wintergerst die Branche Automobil. "Es ist gut und wichtig, dass man das Umfeld kennt, in dem man arbeitet", sagt er. Die Automobilbranche ist ein riesiges Ökosystem, bestehend aus Herstellern und noch viel mehr Zulieferern rund um die ganze Welt mit beispielsweise branchenspezifischen Standards in der Qualitätssicherung von Software für automatisiertes Fahren. "Solches Wissen muss man sich als Einsteiger in eine neue Branche aneignen", sagt Wintergerst.
Ein Branchenwechsel kommt nicht von heute auf morgen. Wer den vorhat, informiert sich, um zu wissen, worauf er sich einlässt. Für die Automobilindustrie ist das recht einfach: Da hilft es schon, die aktuellen Nachrichten zu verfolgen.
Weil die Automobilbranche eine für Deutschland sehr wichtige Industrie ist, wird regelmäßig darüber berichtet - zum Beispiel, dass China der bedeutendste Absatzmarkt ist, der Chipmangel die Automobilproduktion ausbremst oder es zu wenig Ladesäulen für Elektroautos gibt. Solche grundsätzlichen Dinge sind wichtig zu wissen, Spezielleres bekommt man im Alltag am Arbeitsplatz mit.
In Branchen mit ähnlichen Aufgaben wechseln
In manchen Studiengängen werden angehende Informatiker und Informatikerinnen gezielt auf eine bestimmte Branche hin ausgebildet, etwa bei Automobilinformatik, Medieninformatik oder Medizinischer Informatik. In diesen Fächerkombinationen lernen die Studenten die Informatik am Anwendungsfall der jeweiligen Branche mit ihren Besonderheiten kennen.
"Wir lehren in unseren Studiengängen der Medizinischen Informatik, wie Methoden der Informatik in der Medizin genutzt und bei Bedarf angepasst werden können", sagt Petra Knaup, Professorin für Medizinische Informatik in den beiden Bachelor- und Masterstudiengängen an der Universität Heidelberg. In diesen Kooperationsstudiengängen mit der Hochschule Heilbronn ist sie verantwortlich für die Heidelberger Seite.
Als Beispiel für eine solche Anpassung nennt sie eine computerbasierte Operation am Gehirn eines Menschen. Hierfür wird zuvor eine Magnetresonanztomographie aufgenommen. Wenn der Schädel dann geöffnet wird, verändern sich die Druckverhältnisse, wodurch sich das Gehirn verformt. Die vorher aufgenommenen Bilder entsprechen dann nicht mehr der Realität. "Durch spezielle Software für Bildverarbeitung gleichen wir die Unterschiede aus", sagt Knaup.
Speziell an der Medizinbranche ist für Informatiker, dass sich die Parameter laufend ändern, weil sich auch das Befinden der Patienten ständig ändert. Insgesamt ist der menschliche Organismus äußerst komplex und individuell. Hinzu kommt, dass alle Daten vertraulich sind und das Gesundheitswesen in Deutschland teilweise staatlich und teilweise privat organisiert ist. All diese Besonderheiten müssen Informatiker in der Medizin mehr oder weniger beachten, je nachdem, was ihre Aufgabe ist.
In der Medizininformatik lernen die Studenten die Grundlagen der Medizin kennen, etwa die Anatomie und Physiologie des Menschen. "Wir versetzen die Studierenden in die Lage, dass sie sich schnell in ein Medizingebiet eindenken, sich das Fachwissen und die Terminologie aneignen können", sagt Knaup. Das ist wichtig, um sich mit Medizinern und anderem Krankenhauspersonal zu verständigen.
Die Studenten lernen, wie Ärzte denken und verstehen, wie Prozesse in der Klinik ablaufen. "Grundsätzlich aber sind sie Informatiker und können deshalb auch in andere Branchen wechseln, in denen sie zum Beispiel ähnliche Aufgaben wahrnehmen", sagt Knaup. Bildverarbeitung wird etwa auch in der Automobilindustrie für das automatisierte Fahren verwendet.
Wichtig ist, die Prozesse zu verstehen
Der Informatiker Eldar Sultanow hält wenig von speziellen Studiengängen wie der Medizininformatik, weil sie die Einsatzmöglichkeiten der Absolventen für andere Branchen nach seiner Meinung einschränken. "Ich erwarte allgemein von einem Informatiker, dass er die Abstraktionsfähigkeit besitzt, sich in Branchenspezifika einzuarbeiten und zu verstehen, worauf es dort ankommt." Sultanow ist 40, hat als Softwareentwickler in einem Pharmaunternehmen gearbeitet und parallel in Wirtschaftsinformatik promoviert. 2015 hat er seine Promotion abgeschlossen, seitdem arbeitet er bei Capgemini als Software-Architekt.
Sultanow ist überwiegend für einen Kunden aus dem Public-Sektor tätig. "Es ist wichtig, dass ich dessen Geschäftsmodell verstehe." Dafür muss er nicht jeden Paragrafen etwa aus dem Sozialgesetzbuch kennen, aber er muss wissen, was kritisch ist. Dazu zählen bei Sozialbehörden Zahlungen und Bescheide. "Das muss sehr präzise ablaufen, Fehler dürfen hier nicht passieren."
Neben der branchenspezifischen Fachlichkeit hält Sultanow es für unerlässlich zu verstehen, wie das Unternehmen tickt. "Dafür entwickelt man im Laufe der Zeit Fühler, weil das kein Unternehmen von sich aus preisgibt." Verborgenes zu verstehen ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor für ein Projekt. Dieses Verborgene kann durchaus branchentypisch sein.
Wer für eine große Behörde arbeitet, muss verstehen, wie die Prozesse dort ablaufen. Diese Organisationsformen sind mitunter formalistisch und bürokratisch. In der Industrie dagegen können Prozesse auch mal pragmatisch und unbürokratisch ablaufen.
Wer mit KI in der Pharmaindustrie arbeitet, kann es auch im Maschinenbau
Nach Sultanows Meinung wird in allen Informatiker-Jobs Branchenwissen vorausgesetzt - sei es in der Softwareentwicklung oder in der Beratung, "denn heute gibt es meist eine End-to-End-Verantwortung". Deshalb gehört es dazu, dass ITler sich beispielsweise Branchenwissen aneignen, auch wenn sie als Software-Entwickler angestellt sind. Das erfordert Mitdenken in allen Funktionen und damit Branchen-Know-how bei allen.
Branchenwechsel von Informatikern sind also durchaus möglich, wenn es ähnliche Jobs sind. Wer sich mit künstlicher Intelligenz in der Pharmaindustrie beschäftigt hat, wird das auch im Maschinenbau können. Oder wer Software-Architekturen für Cloud-Lösungen für Banken und Versicherungen entwickelt hat, kann das auch für die Elektrotechnik.
Was eher schwierig wird, ist ein Branchenwechsel mit zusätzlichem Technologiewechsel. Ein Informatiker, der in der chemischen Industrie an der automatisierten Produktion von Chemikalien arbeitet, wird nur schwer einen Job bei SAP in der Entwicklung von betriebswirtschaftlicher Software fürs Rechnungswesen finden. Denn dafür sind tiefe Kenntnisse in Buchführung und in Steuern notwendig.
Dieses Beispiel zeigt, wie umfangreich Branchenwissen sein kann - im Sport wäre das vergleichbar mit sehr speziellen Disziplinen wie Baseball oder Synchronschwimmen.
Bild: Greg Fiume / Getty Images