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Programmierte Klischees

Programmierte Klischees - Golem Karrierewelt

(Bild: Javier Saura)

Eine Reportage von Michele Bertelli, Felix Lill und Javier Sauras veröffentlicht am

 

Programmierer war früher kein männlicher Beruf, doch mittlerweile hat sich dieses Klischee weltweit verfestigt: Immer weniger Frauen arbeiten in IT-Berufen. In ärmeren Ländern machen sich Frauen dafür stark, dass Coding gar nicht erst zur Männersache erklärt wird. Eine Reportage von drei Kontinenten.

Eva Göttert ist die Vorurteile gewohnt. Zum Beispiel vor ein paar Wochen, in der Kaffeepause einer Konferenz über die Programmiersprache Java. "Und was machst du?", wurde sie von zwei jungen Männern gefragt: "Marketing?" Die 30-Jährige hat für solche Situationen schon eine Standardreaktion bereit. In ihren tiefen Schreibtischstuhl gelehnt, mit zwei großen Bildschirmen vor sich, stellt Eva Göttert sie noch einmal nach. Der Kopf dreht zur Seite, ihr Lächeln soll die Gereiztheit wohl gar nicht verbergen: "Nein. Ich bin Entwicklerin." Und dann passiere oft das Gleiche: Lockerer Smalltalk wandelt sich in eine kleine Peinlichkeit, die aber nicht an ihr liegt. "Dauert wohl noch", flüstert Eva Göttert in ihrem ruhigen Büro, wo der Geräuschpegel vor allem aus Mausklicks und Tastaturtippen besteht, "bis sich das ändert".

Ein Blick über die Bildschirme vor ihren Augen scheint das zu bestätigen. Hier, in der Zentrale des Preisvergleichsportals Idealo in Berlin-Kreuzberg, werden die zum Erfolg des Unternehmens unabdingbaren Programmieraufgaben fast ausschließlich von Männern erledigt. Neben Eva Göttert ist in ihrer Abteilung nur eine weitere Frau als Entwicklerin angestellt, und damit liegt ihr Arbeitgeber im Trend. Nur gut jede vierte IT-Arbeitskraft in Deutschland, ähnlich wie in anderen Industriestaaten, ist eine Frau. Bei vermeintlich fortschrittlichen Weltkonzernen wie Google und Apple sind gar nur ein Fünftel solcher Mitarbeiter weiblich.

Potenzial von Frauen wird nicht voll genutzt

Und das Bedenklichste daran: Während die Geschlechterungleichheit in den meisten Wirtschaftsbranchen in den vergangenen Jahren international nachgelassen hat, hat sie im IT-Sektor zugenommen. So fragen sich nicht nur die wenigen Frauen im Geschäft: Was muss geschehen, damit eine der größten Wachstumsbranchen endlich modern wird?

Lauter werdende Forderungen nach Wandel hallen aus mehreren Ecken. "Ein Land kann sein Potenzial nur voll entfalten, wenn Frauen ihr Potenzial voll entfalten", sagt Sheryl Sandberg, die Geschäftsführerin von Facebook. Laut der OECD ist dies noch nicht annähernd erreicht, das untermauert schon der Untertitel des jüngsten Genderreports der Organisation, "an uphill battle". Elke Holst, Gender-Ökonomin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, urteilt: "Gerade in der IT-Branche haben sich Strukturen und Klischees festgesetzt. Da muss sich eine Menge tun." Der Global Fund for Women warnt: Wenn es vor allem Männer sind, die die Tools der Zukunft entwickeln, dann werden Frauen zu passiven Konsumenten degradiert, und womöglich noch als solche ignoriert.

Nicht das einzige Mädchen sein

In Deutschland etwa trägt die Frauenquote seit 2013 dazu bei, den Anteil weiblicher Führungskräfte zu erhöhen. Quoten ergeben nicht nur aus ideologischen Gründen Sinn: Unternehmen mit höherer Genderdiversität sind tendenziell auch innovativer. Nur greift die Regel bisher nur für rund 100 börsennotierte Unternehmen, sie bezieht sich auch auf keine bestimmten Branchen, in denen Frauen besonders benachteiligt sind. Eva Götterts Chef, der Idealo-Gründer Albrecht von Sonntag, sagt: "Wir würden gern mehr Frauen einstellen. Aber es finden sich kaum Bewerberinnen. An Quoten wäre gar nicht zu denken." Ein paar Stockwerke weiter unten ist auch Eva Göttert skeptisch. Mit Blick auf ihre Kommandozeilen zögert sie: "Wäre es nicht klüger, wenn man Quoten bei den Ausbildungs- und Studienplätzen einführt? Ansonsten begleitet einen später das Stigma, dass man nur einen Job hat, weil man eine Frau ist."

Und wie würden sich die Kaffeepausengespräche auf Konferenzen dann entwickeln? "Was machst du? Marketing? Oder Programmieren, weil dein Betrieb noch eine Quotenfrau brauchte?" Eine Ausbildungsquote hingegen hätte der jungen Frau schon geholfen. "Ich hab' schon als Schülerin Webseiten programmiert, das hat mir immer gefallen. Aber als meine Freundinnen aufs Wirtschaftsgymnasium gingen, wollte ich nicht als einziges Mädchen auf die technische Schule." So verfestigen sich Geschlechterungleichgewichte: Herrscht einmal in einem Beruf ein Geschlecht deutlich vor, entmutigt das Andersgeschlechtliche, den Beruf zu ergreifen. Eva Göttert studierte Kommunikationswissenschaft und begann bei Idealo zunächst im Produktmanagement. Programmiererin wurde sie durch eine Umschulung.

Dabei war es nicht immer so, dass Programmieren als männlich gilt.

In den 1980er Jahren, als Informatik an den Unis noch ein junges Fach war und der Personal Computer noch nicht die privaten Haushalte erobert hatte, waren etwa in den USA fast die Hälfte der Studenten Frauen. Als sich aber die Computerindustrie mit ihren Werbekampagnen an Jungen statt an Mädchen orientiertefielen die Frauen fortan auch als Studentinnen zurück. Es wurde ein internationaler Trend daraus. Während Eva Göttert und ein Kollege eine Fehlerkette auf der Webseite analysieren, erinnert der sich an seine Uni-Zeit vor 15 Jahren in Dresden: "Wir hatten nicht eine einzige Frau im Studiengang."

Das müsste nicht so sein: In Pisa-Studien schneiden Mädchen in Mathematik nur leicht schlechter ab als Jungen, aber die Unterschiede bei den späteren Karrierewegen sind viel deutlicher. Schwer vorstellbar ist auch, dass die Ungleichheit ausschließlich durch unterschiedliche Berufswünsche zu erklären ist. Den Zahlen getreu müssten Männer dann viermal so häufig an IT interessiert sein wie Frauen. Plausibler sind Erklärungen wie die von Eva Göttert und zahlreichen anderen Frauen: Der Lebensweg, von der Kindheit über die Schule bis in den Beruf, entmutigt viele Mädchen oder Frauen, wenn es um die entsprechenden Fähigkeiten geht. Für Diskriminierung braucht es hierbei keine Verbote oder offenen Anfeindungen. Klischees, wie jenes, dass richtige Nerds nur Jungs sein können, reichen oft schon aus.

Strukturen schaffen

So ein Problem festgefahrener Strukturen belastet vor allem reiche Länder, in denen der IT-Sektor schon ausgereift ist. Die 18-jährige Hyasinta Joseph Luhanga arbeitet daran, dass in ihrer Heimat Tansania Coding gar nicht erst zur Männersache erklärt wird. Vor ein paar Monaten hat sich die Schülerin freiwillig zu einem Programmierkurs angemeldet. "Mir öffnet sich eine ganz neue Welt", schwärmt Hyasinta, als sie am Nachmittag durch den kargen Gang ihrer Schule spaziert, um den nächsten Unterricht anzusteuern. "Nach ein paar Wochen konnte ich schon einen Code schreiben. Dadurch soll eine Smartphone-App über den Wasserstand unserer Brunnen informieren."

In Hyasintas Heimat, der tansanischen Hauptstadt Daressalam, gehört Wassermangel zu den Alltagsproblemen. Und in einer Gesellschaft, in der ein Viertel der Erwachsenen nicht lesen und schreiben kann, machen solche raren IT-Kenntnisse einen wichtigen Unterschied. Nicht nur für die ganze Gesellschaft, sondern auch für die ansonsten häufig marginalisierten Frauen. Carolyne Ekyarisiima, die Lehrerin von Hyasinta, stellt sich das so vor: "Die IT-Skills werden der Schlüssel zu ökonomischer Unabhängigkeit. Der Alltag ist schon heute stark digitalisiert, viele Familien haben auch ein Smartphone. Aber nur wenige verstehen die Vorgänge dahinter."

Wandel durch Vorbilder

Der Gedanke von Ekyarisiimas Verein Apps & Girls ist simpel: Durch die Schulungen soll in ganz Afrika eine erste Generation weiblicher IT-Rollenmodelle heranreifen. Theoretisch könnten auch Männer als Rollenmodelle für Frauen herhalten, nur orientieren sich Heranwachsende meist an Idolen, die viel Ähnlichkeit zu ihnen selbst haben. Carolyne Ekyarisiima sagt daher: "Mehr Coderinnen kriegen wir nur, wenn Mädchen zu anderen Coderinnen aufschauen können." Deshalb lernen Hyasinta und die anderen 30 jungen Frauen in ihrer Schule nicht nur das Programmierhandwerk, sondern auch das kleine Einmaleins der Geschäftsgründung. "Es gibt hier fast noch keinen Arbeitsmarkt für Programmierer", sagt Hyasinta zu Ende des Unterrichts, rollt ein Plakat mit aufgemalten Brunnen, Handys und Hierarchiebäumen für die Programmierung zusammen. Auf ihrem Notizblock lächelt die Popsängerin Hanna Montana, aber die hat Hyasinta per Kugelschreiber mit einer Nerdbrille verziert. "Also müssen wir Unternehmerinnen werden."

Kann es sein, dass es in der Zukunft von Tansania vor allem Frauen sein werden, die programmieren? Apps & Girls gibt sich alle Mühe. Im Klassenraum, der nach dem Unterricht noch voll mit weiterlesenden Schülerinnen ist, sagt Carolyne Ekyarisiima: "Bis 2025 wollen wir in ganz Afrika eine Million Mädchen trainiert haben."

In Peru tut sich gerade etwas Ähnliches. Eine kleine IT-Branche gibt es hier schon, und nur jede zehnte Arbeitskraft darin ist eine Frau. Hier liegt die Ungleichheit weniger an über Jahrzehnte geprägten Berufsbildern, sondern eher daran, dass Eltern oft weniger Geld in die Ausbildung für Mädchen stecken als in die für Jungen. Aber bei der in mehreren Ländern Lateinamerikas aktiven NGO Laboratoria überwiegt die Überzeugung, dass es noch nicht zu spät ist, am Boom teilzuhaben. An einem Morgen um 9 Uhr ist das Großraumbüro von Laboratoria, in einem Obergeschoss eines Hochhauses im Zentrum von Lima, brechend voll. Auf jedem Tisch stehen Computer, dahinter diskutieren hohe Stimmen über "Search engine optimization" und "UX Design". Kein einziger Mann sitzt an den Rechnern, Laboratoria bildet ausschließlich Frauen aus. Ein Plakat mit dem Satz "All you need is code" prangt an der Wand, daneben der Tagesplan. Das Motto: gratis Frauen mit viel nachgefragten Fähigkeiten ausbilden, um endlich Schluss zu machen mit Machismo und Frauendiskriminierung.

Angie Condor Macuri hat sich deshalb für den Kurs angemeldet. Die junge Frau mit breiter Brille und Lederjacke über ihrer Stuhllehne hat schon bald jeden Aushilfsjob gemacht, um ihrem kleinen Sohn ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. "Selbst wenn meine Chefs Frauen waren, hatten die wenig Verständnis für die Situationen von Müttern. Die denken oft, Frauen sollten entweder keine Kinder haben oder nicht arbeiten. Aber ich bin nun mal Single." Mit dem Kurs, den sie morgens vor ihrem Job als Grafikdesignerin besucht, hofft Angie Condor Macuri, dass sich die Lage ändert. "Bald kann ich Dinge, die sonst kaum jemand beherrscht. Dann bin ich für Arbeitgeber unentbehrlich."

Derzeit verdienen Frauen in Peru durchschnittlich 30 Prozent weniger als Männer, allerdings vor allem deshalb, weil sie häufiger im informellen Sektor arbeiten. Ökonomen haben errechnet, dass Perus Wirtschaftsleistung um bis zu zwei Prozent im Jahr zunehmen könnte, wenn das Land die Kompetenzen von Frauen besser in den Arbeitsmarkt integrierte. Das gilt wiederum nicht nur für Peru: Auch für Deutschland ist es allein schon wegen der alternden Bevölkerung und dem damit einhergehenden Arbeitskräftemangel nötig, Frauen und Männer optimal einzusetzen. Das Wachstum der IT-Branche böte sich dafür an.

Frauen unter Druck

Am späten Abend sitzt Angie Condor Macuri noch immer an einem der Tische im Großraumbüro. Den Oberkörper hat sie tief über den Computer gebeugt, damit sie den kleinen Datenoutput auf dem Bildschirm besser erkennen kann. "Wo ist der Fehler ...", murmelt sie. Sie steht unter Druck, morgen muss sie ihr Abschlussprojekt präsentieren. Ihren Sohn hat sie bei ihren Eltern einquartiert, die Nacht wird sie durchmachen. Es sind Situationen, die Eva Göttert aus ihrer Fortbildung gut kennt und Hyasinta Joseph Luhanga auf ihrem Weg zur Unternehmerin noch vor sich hat. "Bei manchen Dingen müssen wir als Frauen eben doppelt so viel leisten", stöhnt die Mutter. Angie Condor weiß es auch ohne Statistiken: Sobald Frauen Mütter werden, verschlechtern sich ihre Karrierechancen deutlich, gleichzeitig beteiligen sich Väter, wie auch in Deutschland, insgesamt immer noch weniger an Erziehungs- und Haushaltssachen. "Ich bin müde", stöhnt sie, und man sieht es ihren vom Bildschirm angestrahlten Augen an. Aber die Mühe sei es wert, ist sie sich sicher.

Einen Tag später sind in Angie Condor Macuris Gesicht keine Sorgen mehr zu erkennen. Auf ihrer Abschlussfeier bei Laboratoria hat sie eine gelbe Schärpe aus Seide um den Hals gelegt, ihre Augen strahlen: "Eben habe ich mit einem Vertreter einer großen Bank gesprochen, er war ganz interessiert an meinen Kenntnissen. Wir haben einen Termin in seinem Büro verabredet." Die Gehaltsverhandlungen übernimmt der Verein. Drei Viertel der bis jetzt 600 Absolventinnen von Laboratoria haben kurz nach ihrem Abschluss einen festen Job gefunden. Und schon in einigen Köpfen alte Rollenbilder auf den Kopf gestellt.

Disclaimer: Diese Recherche wurde im Rahmen des Innovation in Development Reporting Grants des European Journalism Centre unterstützt und durch die Bill and Melinda Gates Foundation finanziert. Die Förderer haben keinen Einfluss auf den Inhalt genommen.

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