Sein Code steckt in Tausenden Beinen

Sein Code steckt in Tausenden Beinen - Golem Karrierewelt

(Bild: Daniel Schatzmayr)

Von Maja Hoock veröffentlicht am 

Wer Code für intelligente Prothesen schreibt, kann sich nicht kreativ austoben. Künstliche Beine müssen ihre Träger vor allem sicher die Treppe hinaufbringen. Golem.de hat einen Programmierer getroffen, der aus der Gaming-Branche kommt und sich auf Bionik umgestellt hat.

Eine der wenigen urbanen Ecken in Wien: Daniel Schatzmayr, lange braune Haare, schwarzes Hackerspace-Shirt, sitzt an seinem Rechner im Bürokomplex von Ottobock mit Blick auf eine große Hochstraße. Um ihn herum sind künstliche Gelenke, Knie und Unterschenkel aufgebaut. Ein einzelner Fuß steht neben einem Ficus Benjamini.

Der 38-jährige Programmierer schreibt die neue Software zu den Prothesen, die zur Entwicklung in Einzelteilen auf seinem Tisch liegen. Vor sieben Jahren hat er als Embedded Systems Engineer angefangen. "Das beeindruckendste Erlebnis in meinem neuen Job war direkt ganz zu Beginn", sagt er. "Kollegen haben mich zu meiner ersten Anwenderprobe hinzugerufen. Ich habe das erste Mal jemanden mit dieser Prothese gehen sehen. Das war sehr ergreifend. Ich dachte wirklich: Wow, man gibt Leuten etwas zurück, das sie verloren haben."

Wie es sich anfühlt, Software im Bein zu haben

Das erleben Menschen wie die 57-jährige Sabine Tutsch. "Ich bin hinter meinem Auto gestanden", erinnert sie sich an ihren Unfall. "Eine Fahrerin ist mit einem von rechts kommenden Auto kollidiert und mit ihrem Wagen gegen meinen Fuß geschleudert. Ich habe das nicht einmal mitbekommen, weil ich mit dem Rücken zu ihr gestanden habe. Am zweiten Tag nach dem Unfall ist eine Sepsis hinzugekommen, weshalb man schnell handeln musste."

Seitdem ist sie "Knie-ex", was bedeutet, dass ihr Unterschenkel und das Kniegelenk amputiert wurden. Wenige Wochen später hat sie bereits eine Beinprothese bekommen. "Man kann sich als gehender Mensch überhaupt nicht vorstellen, wie sich das anfühlt, wenn man damit geht. Das war ganz, ganz anders", sagt sie.

Dass ein Programmierer wie Daniel Schatzmayr Code für ihre Prothese geschrieben hat, bekommt sie immer dann mit, wenn sie beim Orthopädietechniker ist. "Dort funktioniert alles mittlerweile kabellos über Bluetooth. Er gibt etwas ein und plötzlich sind meine Schritte länger. Das ist faszinierend", erzählt sie.

Die erste Prothese, die Schatzmayr und sein Team programmiert haben, war das elektronische Kniegelenk Kenevo. Damit sollen ältere Menschen, die ein Bein durch Diabetes, Schäden durchs Rauchen oder Unfälle verloren haben, wieder gehen können. Zwei Jahre lang arbeitete er daran, es marktreif zu machen. Dazu musste er sich erst einmal von seiner Tätigkeit als Games-Entwickler umgewöhnen.

Denn während er in der Spielebranche für möglichst verrückte Ideen bezahlt wurde, kam es bei den Beinprothesen in erster Linie darauf an, dass ihre Nutzer die Treppe sicher hoch- und runterkommen. "Ich musste schon erst einmal umdenken", sagt er. "Aber es gibt als Softwareentwickler immer auch Gemeinsamkeiten - und am Ende arbeitet man in einer Programmiersprache, die einem vertraut ist."

In seinem Fall sind das C und C++, womit er in seinem vierköpfigen Team die Embedded Software schreibt. Eine seiner Aufgaben ist zu ermöglichen, dass die Applikationsschicht die Aktuatoren ansteuert und die Sensoren einlesen kann. Wenn Fehler auftreten, geht das Gesamtsystem in einen sicheren Zustand, gibt Alarm und speichert Daten zum Bewerten ab, ob ein Gelenk in den Reparaturservice muss oder nicht. Für Prothesenträgerinnen wie Sabine Tutsch bedeutet das, dass auch bei ihr gewisse Vorkenntnisse gefragt sind. "Wohl oder übel muss man sich ein bisschen mit der Technik auseinandersetzen und damit klarkommen", sagt sie. "Wenn irgendwelche Fehlermeldungen kommen, muss ich schließlich wissen, was ich machen soll. Mittlerweile habe ich meine Kniffe."

Auf Daniel Schatzmayrs Kernsoftware auf dem Mikrocontroller, die man betrachten kann wie eine Engine, wird dann von einem anderen Team ein spezialisiertes Regelset aufgespielt, das die Alltagssteuerung implementiert hat. "Das Embedded-Software-Team schreibt quasi das Betriebssystem und meine Kollegen setzen darauf so etwas wie die Applikationen. Sie realisieren damit die schlussendliche Steuerung. Darin ist der eigentliche Ablauf des Gehens festgeschrieben", sagt Schatzmayr.

"Dann wird von einem Orthopädietechniker eingestellt, dass ich einen Langlauf- und einen Fahrrad-Modus habe, die ich auswählen kann", erklärt Prothesenträgerin Sabine Tutsch. "Ich muss wissen, welchen Knopf ich dafür drücken muss. Ich könnte das mit meiner Fernbedienung einstellen, aber für mich ist es natürlicher, wenn ich es mit dem Fuß mache. Dazu muss ich mit dem Zehenteil dreimal gleichmäßig wippen, dann surrt es kurz und ich weiß, es ist auf Langlauf-Modus umgestellt."

Daniel Schatzmayr arbeitet inzwischen schon an der nächsten Generation unterer Extremitäten, die mit dem Smartphone kommunizieren können. Dazu kann er seine Ideen einbringen, wie das Produkt am Ende aussehen soll. Von der Idee zur neuen Prothesengeneration ist das Zusammenspiel ähnlich wie im Gaming: Erst wird das Design festgelegt, dann werden die Anforderungen dafür aufgestellt. Dabei arbeiten die Teams eng zusammen; der Product Owner ist verantwortlich für das Gesamtprodukt, Programmierer definieren die Steuerung der Schritte und Entwickler arbeiten das Zusammenspiel der Einzelteile aus.

Jeden Morgen startet Daniel Schatzmayr mit einem Scrum-Standup, in dem er seine Tagesaufgaben festlegt und sich mit den Kollegen darüber austauscht, wie weit er am Vortag gekommen ist. Dann öffnet er die Programmierungsumgebung und arbeitet sein Paket ab. Dabei handelt es sich um Code, der vor allem das Auslesen von Sensordaten ermöglicht.

Im Gegensatz zu den gedankengesteuerten Armprothesen, die ebenfalls bei Ottobock hergestellt werden und mit Hilfe von Elektroden funktionieren, sind Schatzmayrs Beinprothesen sensorgesteuert. 3D-Lagesensoren messen Beschleunigungskräfte, Winkelsensoren messen den Knie- oder Knöchelwinkel und Kraftsensoren die Kräfte, die entstehen, wenn man etwa auftritt und den Fuß abrollt oder sich nach vorne beugt. Hydraulische Dämpfungseinheiten mit Motoren regulieren den Dämpfungsgrad, indem sich Ventile öffnen oder schließen. Verändert sich etwa das Schuhgewicht, werden auch diese Parameter in die Kontrolle einbezogen.

Für Bionik interessierte sich Daniel Schatzmayr schon Jahre vor Ottobock. 2008 arbeitete er als Lead Developer für den Spieleentwickler Xendex, als er dem Wiener Hackerspace Metalab beitrat: "Gemeinsam haben wir Werkzeuge angeschafft, die man sich alleine nicht leisten konnte, wie einen Lasercutter. Damit konnte ich Roboterteile aus Acryl schneiden. Es war toll, meine Vorstellung Realität werden zu lassen."

Sein erstes Projekt war die Robo-Spinne Hexapod, deren Konstruktionspläne er auf der Website Thingiverse veröffentlicht und als Open Source freigegeben hat. "Das hat sich schnell verbreitet", sagt er. Mit den Tech-Mode-Designerinnen Anouk Wipprecht und Pauline Van Dongen entwarf er bionische Wearables wie das Spiderdress und Bühnen-Wearables für den Eurovision Song Contest. An der Universität für Angewandte Kunst in Wien unterrichtet er "Einführung in die Robotik".

Den 1919 in Berlin gegründeten Prothesenfabrikanten Ottobock fand er immer spannend, weil dort Hightech-Gliedmaße hergestellt werden: federnde Sprintfüße für Athleten, die damit fast schneller rennen als mit echten Beinen, oder Hände, die mit Muskelsignalen so sensibel gesteuert werden, dass sie ein Ei zwischen die Finger nehmen können, ohne es zu zerdrücken. So hat er sich initiativ beworben, ohne dass eine Stelle ausgeschrieben war. "Ich wollte mit dem, was ich beruflich mache, endlich wirklich zufrieden sein", sagt er. "Ich war irgendwie durch mit der Gaming-Industrie, wo es für das Überleben der Branche zunehmend wichtiger wurde, Geld zu machen als gute Spiele. Gleichzeitig ist man in der Spiele-Branche meist unterbezahlt. Ich wollte einen neuen Job, auf den ich stolz bin, der fair bezahlt ist und anderen hilft."

Daniel Schatzmayrs Weg in die Medizininformatik war nicht gerade klassisch. Zuerst hat er Elektrotechnik und Toningenieur in Graz studiert. Programmieren hat er sich als Siebenjähriger beigebracht, um es seinen großen Brüdern nachzutun: "Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen, habe sechs zum Großteil ältere Geschwister. Über die bin ich mit Computern in Berührung gekommen." Seine ersten Codezeilen schrieb er auf einem programmierbaren Taschenrechner, 1987 machte er mit einem Commodore 64 weiter. "Das hat auf mich eine unheimlich starke Faszination ausgeübt, die ich bis jetzt habe. Ich finde es so faszinierend, welche Universen einem das Programmieren eröffnet. Ich bin sehr froh darüber, dass ich damit tatsächlich mein Geld verdienen kann."

Da jeder einen ganz eigenen Gang hat, der ihn ein Stück weit definiert, kann es durchaus vorkommen, dass Prothesenträger selbst Hand anlegen und etwas im Code ändern möchten. Der Träger einer Handprothese sagte Golem.de, er wolle gerne einstellen können, wie stark er zupacken kann. Doch was halten die Programmierer von solchen Wünschen?

"Was wir anbieten ist, dass Anwender auf verschiedene Modi wie Tanzen, Radfahren oder Skifahren umschalten können", erklärt Daniel Schatzmayr. "Aber das ist alles in festgelegten Sicherheitsprüfungen erprobt. Wenn man die Software selber modifizieren könnte, hätte man das Problem, dass es unsicher werden würde."

Wenn ein Bein falsch eingestellt wäre, könnte man leicht stürzen und sich schwer verletzen. "Man muss", sagt Schatzmayr, "genau wissen, welche Freiheiten man gefahrlos ermöglichen kann." Zudem müsste man die Prothese öffnen, um etwas an ihrer Software zu manipulieren. Bei den Geräten, die mehrere Tausend Euro kosten, würden das die wenigsten riskieren - selbst wenn sie programmieren können. Die Schnittstellen sind nicht nach außen zugänglich, man müsste dafür sehr viel Aufwand betreiben.

Steuerung per Smartphone wird wohl bald möglich sein

Jede Programmierungsentscheidung hat also Auswirkungen auf die Lebensqualität der Träger. "Rückwärts zu gehen wäre so eine Qualität, bei der man pragmatisch zwischen Nutzen und Risiken abwägen muss", sagt Schatzmayr. "Es ist natürlich toll, wenn man das kann. Aber wenn bestimmte Prothesen das nicht sicher schaffen, können wir das eben nicht anbieten."

Sabine Tutsch fehlt vor allem eine Sache: "Ich kann entweder am Boden sitzen oder stehen, aber nicht in die Hocke gehen, weil das Gelenk das nicht mitmacht." Trotzdem hat sie noch nie versucht, ihre Beinprothese zu manipulieren. "Ich kann selbst nichts einspeichern. Aber ich hätte das auch nicht gewollt, weil man überfordert ist mit der Situation. Es ist ein bisschen, wie wenn man ein neues Auto bekommt: Man versucht, mit den Gegebenheiten umgehen zu lernen. Mittlerweile hat es sich aber automatisiert und es fällt mir nicht mehr weiter auf."

Die nächste Generation Beinprothesen soll noch mehr Freiheiten schenken. "Es ist wie bei einem Auto", sagt auch Daniel Schatzmayr. "Man weiß, es fährt. Das nächste soll mehr bieten und mehr Komfort haben."

Dazu gehört zum Beispiel, dass die Umgebung stärker beachtet wird und Nutzer per Smartphone mit ihrer Prothese kommunizieren können. Der Programmierer war gerade in einem Kick-off-Meeting zu diesem Thema. Bald kann Frau Tutsch also mit ihrem Smartphone einstellen, wenn sie Langlaufen geht. Bis sie sich theoretisch selbst ihre ideale Superprothese zusammenhacken kann, wird es aber wohl noch ziemlich lange dauern.

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