Die Bremser vom Amt
Um die öffentliche Verwaltung zu digitalisieren, brauchen Bund, Länder und Gemeinden "ein Wunder" und zigtausend IT-Fachkräfte. Ein attraktives Arbeitsumfeld bieten sie diesen bislang aber nicht.
Eine Analyse von Gerd Mischler
Diese Ansage war deutlich: "Der Rückstand Deutschlands bei der Digitalisierung" beruhe "auf verschiedenen Formen von Organisationsversagen", stellte der Wissenschaftliche Beirat des damaligen Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi) im März 2021 in einem Gutachten fest.
Die neue Bundesregierung verspricht in ihrem Koalitionsvertrag nun, zwar alles besser zu machen. Dazu muss sie allerdings den Mut aufbringen und den öffentlichen Dienst so grundlegend reformieren, dass dieser als Arbeitgeber für Soft- und Hardware-Experten attraktiv wird. Denn um den Digitalisierungsrückstand in den Amtsstuben zu beseitigen, müssen Bund, Länder und Gemeinden zigtausend Informatiker einstellen. Bislang können sie diesen allerdings nur selten ein Arbeitsumfeld bieten, in dem IT-Spezialisten gerne arbeiten.
Wie weit deutsche Kreis- und Gemeindeverwaltungen, Behörden und Ministerien bei der Digitalisierung hinterherhinken, dokumentieren zahlreiche Untersuchungen. So ist Deutschland im Digital Economy and Society Index der Europäischen Kommission in der Teilkategorie "Digitalisierung der Verwaltung" seit 2017 um vier Ränge abgerutscht und belegt heute den 16. Rang nach Slowenien und Litauen. "Das Selbstbild eines gut organisierten und gut regierten Landes hat sichtbare Risse bekommen", stellte der Nationale Normenkontrollrat deshalb im Mai 2021 fest.
Strukturen in den Behörden blockieren die Digitalisierung nicht erst seit Corona
Wie Recht das Expertengremium hat, erfuhr, wer als Bundesbürger monatelang auf Auskünfte oder Bescheide von Ämtern wartete, die die Beamten oft nicht bearbeiten konnten, weil sie selbst im Homeoffice saßen und mangels digitaler Tools gar keinen Zugriff auf die entsprechenden Akten hatten. Eltern erlebten den Rückstand, wenn das Homeschooling ihrer Kinder an der mangelnden Ausstattung und Erfahrung vieler Schulen mit digitalen Tools für den Online-Unterricht scheiterte.
"Die Strukturen der öffentlichen Verwaltung haben sich aber bereits vor der Pandemie als wesentliche Hemmnisse für eine effektive Digitalisierung erwiesen", stellt Hans-Peter Klös, Geschäftsführer und Leiter des Bereichs Wissenschaft am Institut der Deutschen Wirtschaft, fest.
Eine Umfrage des Digitalverbandes Bitkom aus dem Jahr 2019 dazu, wie zufrieden Bürger hierzulande mit dem digitalen Angebot der Verwaltung an ihrem Wohnort sind, gibt Klös Recht. Schon vor der Pandemie beurteilten 56 Prozent der Befragten die Digitalisierung der Ämter in ihrer Gemeinde oder Stadt als "rückständig". In der Nachfolge-Untersuchung sagten das 2021 sogar 62 Prozent der befragten Bürger.
Die Technische Universität München und die Initiative D21 stellen in ihrem eGovernment-Monitor 2021 (PDF) sogar fest, dass die Zufriedenheit der Deutschen mit dem Online-Angebot in ihrer Stadt oder Gemeinde um ganze 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken ist. Sie erklären dies damit, dass die Webseiten vieler Ämter nicht zuverlässig laufen, Online-Angebote zu kompliziert zu bedienen und Inhalte entweder nicht aktuell oder schwer zu finden sind.
Nur ein Wunder kann helfen
Doch statt die Schelte ihrer Berater und Beiräte zum Anlass zu nehmen, endlich das schon 2017 erlassene Onlinezugangsgesetz (OZG) umzusetzen, legten Ex-Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und der Rest der Großen Koalition in den letzten Monaten ihrer Amtszeit die Hände in den Schoß. Im September 2021 beklagte der DBB Beamtenbund und Tarifunion, dass Bürger statt der vom OZG vorgesehenen 575 Verwaltungsleistungen nur 16 Dienste online in Anspruch nehmen konnten.
So lässt sich bislang nur in knapp jeder dritten Kommune ein Gewerbe online anmelden. In gerade mal vier Prozent der Städte und Gemeinden könnten Bürger einen Bauantrag über das Internet stellen, bemängelt auch das Kompetenzzentrum Öffentliche IT des
Fraunhofer-Instituts für Offene Kommunikationssysteme im Deutschland-Index der Digitalisierung 2021.
Damit die öffentliche Hand, wie von dem Gesetz vorgeschrieben, bis Ende 2022 auch die restlichen 559 Verwaltungsdienstleistungen anbieten kann, müsste nach dem Phlegma der letzten Bundesregierung schon "ein Wunder" geschehen, sagt der Hauptgeschäftsführer des Bitkom, Bernhard Rohleder.
SPD, Grüne und FDP erklären die Digitalisierung der Verwaltung zur Chefsache
Für dieses will nun die neue Bundesregierung sorgen. "Der Bund schafft die Voraussetzungen, dass das OZG in den Kommunen erfolgreich und praktikabel umgesetzt werden kann", versprechen SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag (PDF). Dazu müssen Bundesregierung, Länder und Gemeinden jedoch viel Geld in die Hand nehmen und bis 2026 rund 46.600 Informatiker einstellen, so das Ergebnis einer gemeinsamen Studie (PDF) der European School of Management and Technology (ESMT) in Berlin und der Unternehmensberatung KPMG.
Für sieben von zehn der für die Digitalisierung der Amtsstuben zu besetzenden Positionen brauchen Behörden, Ministerien, Stadt- und Gemeindeverwaltungen zudem keine Berufsanfänger, sondern erfahrene Fachleute, die nicht nur Hard- und Softwarekenntnisse haben, sondern auch Erfahrungen im Projektmanagement, agilen Entwicklungsmethoden, dem Datenschutz sowie den Fachgebieten der entsprechenden Behörden, so die Untersuchung weiter.
Ihr zufolge wird die öffentliche Hand auch erfahrene Spezialisten für User Experience und User Interface Design brauchen. Denn Ämter sollen Verwaltungsprozesse nach den Vorstellungen der Bundesregierung nicht nur digital abbilden, sondern bürger- und nutzerfreundlich gestalten.
Die Verwaltung braucht über 30.000 IT-Spezialisten
Der Personalbedarf nimmt dabei in den kommenden Jahren kontinuierlich zu. Solange die von der Verwaltung benötigten IT- und Software-Lösungen entwickelt und implementiert werden, bleibt der Fachkräftebedarf mit 14.100 Experten noch überschaubar. Sobald die neuen Anwendungen betrieben werden, brauchen Bund, Länder und Gemeinden allerdings mehr als doppelt so viele Fachleute für deren Unterhalt und Support.
Insgesamt, so die Studie, müsse die Verwaltung dann 32.500 IT-Spezialisten beschäftigen, um alle vom OZG vorgeschriebenen Verwaltungsleistungen online anbieten zu können. Das sind fast 75 Prozent aller aktuell im öffentlichen Dienst tätigen Soft- und Hardware-Experten.
Die Umsetzung des OZG ist in den Ämtern aber nicht die einzige Digitalisierungsaufgabe. Weitere Fachleute benötigen diese, um wie ebenfalls von der amtierenden Bundesregierung und ihrer Vorgängerin zugesagt Systeme für die Online-Vergabe öffentlicher Aufträge und die elektronische Akte entwickeln, implementieren und betreiben zu können. Außerdem gehen bis 2030 gut 1,3 Millionen öffentlich Beschäftigte in den Ruhestand. Dadurch wird der Personalbedarf noch größer.
Die öffentliche Verwaltung muss grundlegend reformiert werden
Wie groß genau, haben die Experten von ESMT und KPMG zwar nicht berechnet. Fest steht aber: Auf dem Arbeitsmarkt werden Bund, Länder und Kommunen nicht genug IT-Experten für alle von ihnen zu schaffenden Stellen finden. Schon 2021 beklagte der Bitkom, dass Arbeitgeber gut 96.000 Stellen in der IT nicht besetzen konnten. Hinzu kommt, dass sich die raren Fachkräfte wohl viele spannendere Aufgaben vorstellen können, als den analogen Mief aus den Amtsstuben zu kehren.
Damit sich dies ändert, brauche die öffentliche Verwaltung nichts weniger als "einen transformativen Paradigmenwechsel, ähnlich den Stein-Hardenberg-Reformen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Preußische Verwaltung grundlegend modernisierten", stellt der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) in einem Positionspapier klar und fordert Behördenleitungen auf, endlich die Verantwortung für die Modernisierung und Digitalisierung ihres Dienstbereiches zu übernehmen.
Der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums sieht das ähnlich. "Der nachhaltige Einsatz digitaler, datenbasierter Prozesse und Verfahren" erfordert "ein Neudenken der bisherigen Führungsansätze", forderte er 2021 in seinem Gutachten.
Vor allem die Führungskultur im öffentlichen Dienst muss sich ändern
Die Kritik kommt nicht von ungefähr. Schließlich werden Referats- und Abteilungsleitungen im öffentlichen Dienst dem Prinzip der "Bestenauslese" folgend mit den Beamten besetzt, die die besten Prüfungsnoten und dienstlichen Beurteilungen vorweisen können. In der Ausbildung spielt die Digitalisierung bislang aber keine Rolle und bei den Beurteilungen zählen oft vor allem formale Kriterien. "Gerade im Bereich der Digitalisierung kommt es aber weniger auf formale Qualifikationen als tatsächliche Erfahrung an, die sich im bisherigen Dienstrecht schwer erfassen lässt", stellt der BDI fest.
Bisher fordert und fördert das Beamtenrecht also weder in der Ausbildung noch in den Laufbahnwegen Fähigkeiten im Projekt- und Change-Management, der Entwicklung langfristiger Strategien oder Kenntnisse grundlegender Digitalisierungstechnologien.
Auf Teamarbeit und agiles Management kommt es im öffentlichen Dienst oft nicht an. Diese müssten in der Verwaltung aber dringend und schnell eingeführt werden, damit diese "innovative Technologien und Prozesse früher als bisher einsetzen kann", schrieb sein Wissenschaftlicher Beirat Ex-Minister Peter Altmaier 2021 auf die To-do-Liste.
Wer nichts tut, steigt im öffentlichen Dienst auf
Bislang ist allerdings kaum etwas passiert. Noch immer herrsche in den Amtstuben statt der Bereitschaft, agil zu lernen, eine Kultur, die darauf ausgerichtet ist, Fehler und damit auch Entscheidungen zu vermeiden, moniert der BDI. "Leider besteht manchmal der Eindruck, dass in der öffentlichen Verwaltung "Nicht-Handeln" der sicherere Weg zur Karriere ist. Doch wer nicht handelt, verzichtet sowohl auf die Chance, Dinge richtig voranzubringen als auch auf die Chance, etwas zu lernen", fasst Jochen Schmitz, Finanzvorstand von Siemens Healthineers und Mitverfasser des BDI-Papers zusammen.
Die Sicherheitsorientierung der öffentlichen Entscheider ist bedenklich, aber nur eine Erklärung, weshalb Behörden IT-Fachkräften keine attraktiven Arbeitsplätze bieten können. Mindestens ebenso hinderlich ist, dass viele Referats-, Abteilungs- und Behördenleiter ihren Mitarbeitern scheinbar zutiefst misstrauen.
Anders lässt sich kaum erklären, dass Angestellte und Beamte in jeder zweiten Behörde grundsätzlich nicht im Homeoffice arbeiten dürfen. Das fand der Bitkom im Rahmen der Studie Kommunen und Corona. Digitaler nach der Pandemie? (PDF) heraus. Dabei geben lediglich acht Prozent der Führungskräfte auf die Frage nach einer Begründung für den von ihnen verordneten Präsentismus an, dass ihre Mitarbeiter im Amt anwesend sein müssen, um Bürger zu bedienen.
Vier von zehn Vorgesetzten, die während der Corona-Pandemie ausnahmsweise die Arbeit im Homeoffice gestatten, wollen zudem nach der Krise wieder zur uneingeschränkten Anwesenheitspflicht zurückkehren, so ein weiteres Ergebnis der Umfrage. Dass sie so IT-Spezialisten für die Digitalisierung gewinnen können, ist schwer vorstellbar.
Die IT in vielen Behörden lässt die Arbeit aus dem Homeoffice nicht zu
Mehr Homeoffice lässt aber auch die auf den meisten Ämtern vorhandene Soft- und Hardware-Ausstattung gar nicht zu. Nicht mal jede zweite Behörde (46 Prozent) verfügte zum Zeitpunkt der Umfrage zwischen August und November 2020 über VPN-Zugänge. Nur jede vierte nutzte Cloud-Anwendungen und Dokumentenmanagement-Systeme. Nur 22 Prozent der Ämter hatten ein Intranet, lediglich elf Prozent hatten Kollaborationstools im Einsatz. "Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der öffentlichen Verwaltung ist das eine Zumutung", sagt BDI-Präsident Siegfried Russwurm.
Die Zeit für Behördenleiter, ihren Führungsstil zu überdenken und wenigstens die Arbeitsplätze ihrer Mitarbeiter auf den Stand der Technik zu bringen, wäre jetzt. "Einen automatischen Rückschritt zu den vor der Krise üblichen Vorgaben und Vorgehensweisen sollte es nicht geben", mahnte der Wissenschaftliche Beirat des BMWi 2021. Auch deshalb, weil die öffentliche Hand sonst die IT-Fachkräfte nicht gewinnen kann, die sie dringend braucht.
Gehört wurde der Aufruf der Beiräte aber weder von der damaligen Bundesregierung noch von den Vorgesetzten in den Behörden. Von diesen hält der Bitkom-Befragung zufolge mehr als jeder Dritte andere Probleme für dringender als die Digitalisierung. Beeindruckende 76 Prozent der Behörden hatten daher zum Umfragezeitpunkt keine Digitalisierungsstrategie. Gemessen daran, wie deutlich die Ansage der BMWi-Beiräte und des Normenkontrollrates waren, zeugt diese Ignoranz von echten Nehmer-Qualitäten.