IT-Freiberufler: Fünf Jahre Praxis zählen wie ein Informatikstudium
(Bild: privat)
Von Peter Ilg veröffentlicht am
Werden IT-Freiberufler mit akademischem Abschluss besser behandelt als Freelancer ohne? Nein, denn Berufserfahrung ist genauso viel wert.
Sascha Seewald, heute 39, war jung und die Musik war ihm wichtiger als seine Berufsausbildung. Deshalb brach er seine Ausbildung zum EDV-Kaufmann nach zwei Jahren ab und organisierte ein Jahr lang Musikfeste. Anschließend war er zehn Jahre in der IT-Beratung, Softwareentwicklung und im Support fest angestellt, dann kamen wieder zwei Jahre in der Festivalorganisation und 2007 kam schließlich die Selbstständigkeit mit einer Agentur für IT-Kommunikation.
Als es mit seinem Agenturpartner zum Bruch kam, wurde Seewald 2012 IT-Freiberufler. "Ohne Ausbildung oder Studium hatte ich die denkbar schlechtesten Voraussetzungen und musste anfangs Aufträge mit meinen Erfolgen und Referenzen aus meiner unternehmerischen Tätigkeit erkaufen." Das konnte er, denn seine Agentur war durchaus gut gelaufen.
Heute muss Seewald nicht mehr extra nachweisen, dass er qualifiziert ist, denn er hat inzwischen einen guten Namen und einen festen Kundenstamm - hauptsächlich Konzerne. Sie suchen vor allem ITler mit Spezialwissen und das hat Seewald: zu Softwareentwicklung für Enterprise-Anwendungen.
Seewald ist ein typisches Beispiel für einen IT-Freelancer, der es ohne akademischen Abschluss geschafft hat, sich ein Geschäft aufzubauen. Insgesamt soll es in Deutschland um die 120.000 IT-Freiberufler geben. Davon gehen das Marktforschungsinstitut Lünendonk & Hossenfelder, der IT-Branchenverband Bitkom und der Bundesverband Informationstechnologie für Selbstständige aus. Es ist eine Schätzung, genaue Zahlen gibt es nicht.
Auch nicht darüber, ob und wie die IT-Freiberufler formal qualifiziert sind. "Das spielt eher eine untergeordnete Rolle", sagt Heinrich Tenz, der Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes Informationstechnologie für Selbstständige (DBITS). Bei IT-Freiberuflern zähle hauptsächlich praktische Erfahrung.
Seewald erlebt das auch so. Fünf Jahre praktische Tätigkeit seien gleichwertig mit einem Informatikstudium, sagt er. Er weiß das von Personalern aus den Konzernen, in denen er arbeitet. "Dass ich weder eine Ausbildung noch ein Studium abgeschlossen habe, spielt für meine Kunden heute keine Rolle mehr, denn ein Zeugnis bestätigt lediglich einen Abschluss und ist damit kein Nachweis für Fachwissen und Qualität." Erfolgreich abgeschlossene Projekte hingegen schon.
Expertise zählt mehr als ein Studium
Mit zunehmender Berufserfahrung rücken also eine Ausbildung oder ein Studienabschluss in den Hintergrund und es zählt allein die Expertise. Seewald spürt jedenfalls keinen Unterschied im Umgang, weil er weder ausgebildet noch Akademiker ist: Ob mit oder ohne Ausbildung und Studium - seine Auftraggeber behandelten ihre Freelancer da nicht unterschiedlich. "Die Leistung und der Integrationswille zählen, nicht ein Bachelor- oder Master-Abschluss", sagt Seewald, der sich auch ohne akademischen Grad stets wertgeschätzt und immer fair behandelt fühlt.
Heinrich Tenz ist selbstständiger SAP-Berater und im Vorstand von DBITS. (Bild: Detlef Schilk)
Für den Faktor Erfahrung spricht auch: Das durchschnittliche Einstiegsalter von IT-Freiberuflern (mit und ohne Ausbildung/Studium) liegt nach Angaben des DBITS-Vorsitzenden Tenz bei 36 Jahren. Die meisten, die sich selbstständig machen, sind schon zehn oder mehr Jahre berufstätig.
Tenz selbst hat Germanistik studiert und ist damit Quereinsteiger. Knapp vier Jahre war er als SAP-Berater fest angestellt und ist inzwischen seit fast 23 Jahren freiberuflicher SAP-Berater. "Ich war in all den Jahren überwiegend gut ausgelastet", sagt er.
Weil Freiberufler ihren Auftraggebern gegenüber nicht weisungsgebunden sind, sei der Umgang schon allein deshalb respektvoll. Hinzu komme der persönliche Faktor. "Ich habe in all meinen vielen Projekten stets menschliche Wertschätzung erfahren."
Die Wertschätzung spiegelt sich auch in den Honoraren wider: Quereinsteiger in der IT bekommen ein höheres durchschnittliches Honorar als Absolventen einschlägiger IT-Studiengänge und IT-Berufsausbildungen.
Es lag nach der Studie New Work Kompendium 2019 des Personaldienstleisters Gulp bei knapp 97 Euro. Die Zahlen stammen aus dem Jahr 2018 und sind nach Meinung von Gulp nicht mehr aktuell, das Verhältnis stimme aber noch, teilt Gulp mit.
IT-Freiberufler Sascha Seewald bietet seine Dienste auch bei Etengo an, einem auf die Einbindung von IT-Freelancern in Projekte spezialisierten Personaldienstleister. Dessen Prokuristin Alexandra Hehl bestätigt: "Die berufliche Bildung von IT-Freelancern hat weder auf deren Honorare noch auf den Umgang mit ihnen einen Einfluss." Etengo hat rund 40.000 IT-Freiberufler in der Datenbank, etwa 1.500 Kunden und aktuell um die 1.000 Freelancer im Einsatz.
Alexandra Hehl ist Prokuristin bei dem Personaldienstleister Etengo. (Bild: Etengo AG)
Einer davon ist Thomas Justen. Mit 39 Jahren ist er genauso alt wie Seewald. Justen hat eine Ausbildung zum Fachinformatiker abgeschlossen, danach ein Jahr in einer Festanstellung gearbeitet, dann Business Information Systems studiert.
Vor zehn Jahren hat er sein Studium abgeschlossen und ist direkt im Anschluss Freiberufler geworden. Er bietet Beratung, Konzeption, Betreuung und Umsetzung von Infrastrukturprojekten an. Seine Spezialität sind Client-Serverlösungen mit Fokus auf Microsoft-Technologien. Dafür hat Justen auch einige Zertifikate.
Seine Geschäfte laufen blendend. "Ich erhalte jede Woche zwei bis drei Projektangebote und könnte mit diesem Auftragsvolumen gut zehn Mitarbeiter beschäftigten."
Die gibt der Markt aber nicht her, außerdem hat Justen zwei kleine Kinder und ist verheiratet. "Seit ich eine Familie habe, lehne ich durchaus interessante Projekte mit viel Reiseeinsatz ab, damit ich für meine Familie da sein kann." Das dient auch dem Selbstschutz vor Überlastung.
Justen hat etwas andere Erfahrungen gemacht als die, die Seewald, Tenz und Hehl beschreiben: Denn nach seiner Wahrnehmung wird in 90 Prozent aller Projektangebote eine fachspezifische akademische Ausbildung vorausgesetzt. "Ich denke, dass die Unternehmen von Freien mit solcher Qualifikation eine gewisse Reife und Eigenverantwortung erwarten", sagt Justen.
Praktisch ist ein Studium bei der Projektvergabe unrelevant, wenn es fachlich passt. Dennoch meint Justen, dass er es aufgrund seines Studiums einfacher hat, an lukrative Aufträge zu kommen, als IT-Freelancer ohne akademische Ausbildung. Das ist dann der Fall, wenn der Begriff "Studium" als Filterkriterium in Projektausschreibungen verwendet wird.
Thomas Justen ist spezialisiert auf Client-Serverlösungen vor allem für Microsoft. (Bild: privat)
Justen fühlt sich in seinen Projekten durchgängig gut behandelt, was "mit Sicherheit an über die Jahre gesammelter Expertise und einem höflichen und professionellen Umgang mit Kollegen liegt". Sein Studium ist dafür nicht relevant. Er wurde in keinem Projekt jemals danach gefragt.
aktualisiert am 29.4.2024