Arbeitszeit: Das Sechs-Stunden-Experiment bei Sipgate
(Bild: Sipgate)
Ein Bericht von Manuel Heckel veröffentlicht am
Im Homeoffice stieg die Produktivität bei Sipgate - gleichzeitig wuchs der Druck. Daher reduzierte das Tech-Unternehmen für sechs Wochen die tägliche Arbeitszeit. Einblicke in ein Experiment.
Plötzlich musste alles schneller gehen - und das im eigentlichen Wortsinn. Statt eines gemütlichen Mittagsspaziergangs blieb Leona Kuse zuletzt nur Zeit für eine etwas gehetzte Runde nach dem Essen. "Das hat mich tatsächlich gestresst", sagt die Entwicklerin.
Der Grund: Ihr Arbeitgeber, der Internettelefonie-Anbieter Sipgate, hatte sechs Wochen lang die Arbeitszeiten gekürzt. Statt acht Stunden sollten alle 240 Mitarbeiter nur noch sechs Stunden pro Tag aktiv sein. Für viele Angestellte lockte ein deutlich früherer Feierabend. Doch gleichzeitig stellte das Projekt einiges auf den Kopf, was sich die Teams vorher mühevoll im Homeoffice-Modus an Routinen geschaffen hatten. So steuerte das Düsseldorfer Unternehmen in den vergangenen Wochen durch ein Arbeitszeitexperiment bei vollem Betrieb.
Den Anstoß für den zeitlich begrenzten Pilotversuch gab die Pandemie. Vor knapp einem Jahr war auch Sipgate ziemlich überstürzt an die heimischen Schreibtische gestolpert. Im Sommer gelang ein hybrider Betrieb mit regelmäßigen Retreats, bei denen sich die Teams im Garten des Büros trafen. "Das hat mir unheimlich geholfen, den fehlenden sozialen Aspekt zu kompensieren", sagt Entwicklerin Kuse.
Doch mit Beginn der dunklen Jahreszeit war der physische Austausch wieder auf annähernd null reduziert. Auf die Produktivität hatte das keine negativen Auswirkungen, auf die Gefühlslage schon, beobachtete Mitgründer und Geschäftsführer Tim Mois: "In den acht Stunden ist plötzlich mehr passiert, aber man konnte sehen, dass der Druck zugenommen hat." Manche Mitarbeiter mussten zu Hause parallel Kinder betreuen und coden, andere Kolleginnen litten unter dem fehlenden sozialen Austausch.
So reifte die Idee: Warum nicht für ein paar Wochen pauschal die Arbeitszeit reduzieren - ohne das Gehalt entsprechend zu kürzen. "Bevor wir die vielen Dimensionen der persönlichen Belastung durchanalysieren, probieren wir es einfach mal so aus", sagte Mois zu Beginn des Experiments im Januar. Wenn während der Arbeitszeit ein informeller Austausch nicht mehr möglich ist, sollten die Mitarbeiter so zumindest über mehr Freizeit verfügen können.
Kürzen braucht Zeit
Eine wichtige Erkenntnis nach dem Ende des Experiments: Wenn weniger Zeit da ist, brauchen die Mitarbeiter zuerst Zeit, um sich darauf einzustellen. Zu Beginn sollte die Stundenreduktion nur für zwei Wochen gelten. "Doch wir haben schnell festgestellt, dass es eine Menge an Umbau braucht", berichtet Mois.
Denn die Sprints der Entwicklerteams sind auf diesen Zeitraum ausgelegt. Die Verlockung war groß, zu Beginn einfach drängende Sachen ein paar Tage nach hinten zu verschieben, wenn die sechs Stunden nicht mehr ausreichten. Also wurde das Experiment um einen Monat verlängert.
"Für die meisten war es am Anfang relativ anstrengend, weil man alles einmal komplett durchdenken musste", sagt Mois. Das heißt, es wurden sämtliche Arbeitsprozesse auf Zeit und Notwendigkeit abgeklopft und tradierte Arbeitsweisen hinterfragt. Das Risiko: Das Experiment sollte etwas Druck aus dem eng getakteten Alltag nehmen - und verdichtete ihn zu Beginn noch ein wenig.
"Wie wollen wir das organisieren?" sei die wichtigste Frage zu Beginn gewesen, sagt Entwickler Patrick Hempel. In seinem Team fand sich folgende Lösung: Standardisierte Meetings wurden knallhart ebenfalls um 25 Prozent gekürzt, zusätzlich wurde eine Kernarbeitszeit vereinbart.
Drumherum mussten sich vor allem die Entwickler-Duos absprechen; bei Sipgate wird parallel im Pairing programmiert. Der Familienvater hatte Glück, dass seine Kinder etwas länger schlafen - und sein Kollege ebenfalls früh auf den Beinen war. So konnten die beiden schon vor dem morgendlichen Standup-Meeting eine knappe Stunde konzentriert an ihren Aufgaben arbeiten.
Leona Kuse ist seit einem Jahr als Entwicklerin bei Sipgate beschäftigt. Sie hat Informatik und Psychologie studiert. (Bild: privat)
In Leona Kuses Team war der Kern der Alltagsarbeit schnell gekürzt: "Wir Entwickler haben unseren Sprint, wir haben dann zwei Stories weniger gemacht", berichtet die 27-Jährige. Einige Routinetreffen wurden kurzerhand von einer Stunde auf eine halbe reduziert. Und siehe da: Trotzdem konnten alle wichtigen Fragen geklärt werden. "Ich gehe davon aus, dass wir diese Termine auch weiterhin gekürzt halten", sagt Kuse.
Doch das Experiment zeigte auch: Nur weil Stunden wegfallen, fallen nicht alle Aufgaben im gleichen Umfang weg. "Es kommen von außen Dinge rein, die sich nicht einfach um 25 Prozent kürzen lassen", sagt Entwickler Hempel. Nach den ersten zwei Wochen im Sechs-Stunden-Modus sei vor allem der Druck bei Kundenbetreuern und Scrum Mastern gestiegen, die abteilungs- oder unternehmensübergreifend tätig sind. Wenn ein Kunde eine Rufnummernportierung benötigte, konnte die Arbeit nicht einfach um 14.30 Uhr enden. "Gerade die Kundenbetreuer waren noch gestresster, weil sie einige Themen einfach nicht verschieben können", sagt Kuse.
Doch auch sie selbst betraf das. Neben der alltäglichen Entwicklerarbeit kümmert sie Leona Kuse mit um das Recruiting und arbeitet jüngere Kollegen ein. Das zusammenzubringen, gelang in sechs Stunden nicht immer. "Ich freue mich darauf, im Acht-Stunden-Tag auch wieder konzentriert über einen längeren Zeitraum an einer User Story arbeiten zu können", so Kuse.
Genau solche Erkenntnisse hatte sich Tim Mois gewünscht, um Engpässe in dem Modell zu identifizieren: "Bei den Aufgaben, die nicht warten können, müsste man ein bisschen mehr Variabilität im System schaffen." Im Klartext hieße das: Sollte irgendwann dauerhaft über eine reduzierte Arbeitszeit gesprochen werden, müssten für neuralgische Positionen neue Stellen geschaffen werden.
Eine weitere Herausforderung: Die ohnehin dichte Arbeitszeit fühlte sich für manchen Sipgate-Mitarbeiter nun noch ein wenig dichter an. Während der verkürzten Wochen war die Motivation hoch, in weniger Stunden zu vergleichbaren Ergebnissen zu kommen: "Wir waren als Team sicher nicht unproduktiver, wir waren deutlich fokussierter", sagt Hempel.
Doch der lockere Austausch, der kurze Chat, die vermeintlich unproduktiven Gespräche blieben dadurch manchmal auf der Strecke. "Ich freue mich darauf, wieder mehr Luft für Socializing zu haben", sagt Kuse. Ihr Team war erst im Januar neu zusammengestellt worden - danach blieb sogar für einen digitalen Kaffee wenig Arbeitszeit über.
Im Gegenzug blieb aber natürlich viel mehr Freizeit nach Feierabend. "Man konnte spazieren gehen ohne den Druck, dass es bald dunkel wurde", berichtet Kuse - die verkürzte Mittagspause ließ sich auf diese Art gut kompensieren. Und Hempel schaltete jetzt deutlich früher als sonst seinen Rechner aus, verließ sein Arbeitszimmer und war bei der Familie angekommen.
Sweet Spot für die Work-Life-Balance
Beide Entwickler berichten, dass nach dem kürzeren Arbeitstag nicht nur der Kalender freier war, sondern auch der Kopf: "Ich war viel kreativer in der freien Zeit", erzählt Kuse. "Ich habe so viel geschlafen wie seit der Geburt der Zwillinge nicht mehr", sagt Hempel. "Sechs Stunden Arbeit sind für mich der Sweet Spot. Mit dem Pensum kriege ich alles, was mein Leben ausmacht, am besten geregelt."
Patrick Hempel ist seit 2018 Full-Stack-Entwickler bei Sipgate. (Bild: privat)
Doch das Experiment ist nun vorbei. Statt sechs Stunden müssen nun wieder acht Stunden pro Tag aufgeschrieben werden. Etwa 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätten sich bereits mit Feedback gemeldet, berichtet Mois. Noch läuft bei Sipgate, das sich traditionell viel mit Trends und Methoden der New-Work-Bewegung auseinandersetzt, die Auswertung.
Zum Alltag wird der verkürzte Tag jedoch auch bei Sipgate so schnell nicht werden. Mit Neugier blickt das Unternehmen auf die kommenden Monate, die neue Modelle für Arbeitszeit oder Arbeitsort mit sich bringen könnten. Sollten noch einmal lange Homeoffice-Phasen mit düsteren Jahreszeiten zusammenkommen, habe man nun ein funktionierendes Tool an der Hand, so Mois: "Es wirkt so, als ob es den Druck aus dem Homeoffice tatsächlich etwas rausnehmen kann."
Einige seiner Kolleginnen und Kollegen könnten sogar vorher ihre Konsequenzen ziehen. Das Unternehmen ermöglicht es, die Arbeitszeit bei entsprechender Gehaltsreduzierung frei zwischen 80 und 100 Prozent zu variieren. Entwickler Hempel denkt darüber nach, seine Stunden für eine Weile zu kürzen: "Das Homeoffice ist der Eisbecher, der Sechs-Stunden-Tag waren die Sahne und die Kirsche obendrauf", formuliert es der 36-Jährige. "Jetzt ist es eben wieder nur der normale Eisbecher."